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Joanna Bator: Wolkenfern

Joanna Bator: Wolkenfern

Dt. v. Esther Kinsky. D 2014, 500 S., Pb., € 14.40
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Suhrkamp
Inhalt
»Wolkenfern« ist nicht nur eine Geschichte, es ist ein ganzes Konglomerat an Geschichten, eine ebenso verfremdete wie queere Form eines Rekognitionsromans, in dessen Hintergrund man eine fast klassisch anmutende Schtetl-Geschichte erahnt, die Maurice Sendak wohl als »Die Geschichte von Napoleons Nachttopf« erzählt und illustriert hätte. - Dominika stammt aus Polen, hatte dort einen schweren Autounfall, wird aber durch die Hilfe einer alten Freundin ihrer Familie, Grazynka, in Deutschland gesund gepflegt. Nach ihrer Genesung bricht Dominika zu einem unsteten Leben auf, lebt eine Weile in New York, heiratet einen schwulen Koch, zieht dann nach London und später nach Frankreich. Die Geschichte Dominikas verlässt Joanna Bator immer wieder, um andere Geschichten zu erzählen. Grazynka wurde als Findelkind im Vorkriegspolen von einem Frauenpaar aufgezogen, angeblich Schwestern - doch dieses Verwandtschaftsverhältnis wurde in dem kleinen und rückständigen Städtchen offenkundig nur deshalb immer wieder kolportiert, weil das Zusammenleben zweier Frauen, die dann auch noch ein Kind haben, anders nicht erfasst, zumindest nicht benannt werden durfte. Die beiden »Teetanten« genannten Mütter wurden während der deutschen Besatzung interniert, wie durch ein Wunder überlebten sie. Vor ihrer Festnahme war es ihnen noch gelungen, Grazynka bei katholischen Nonnen zu verstecken, und so konnte die Patchworkfamilie avant la lettre nach dem Krieg wieder so zusammenleben wie zuvor. Doch ist natürlich nichts mehr so, wie vor dem Einbruch des Terrors. Für die beiden Frauen vor allem auch deswegen, weil der Friseur des Städtchens sie im Lager scheren und so in kompromittierender Nacktheit gesehen hatte - jetzt will Grazynka bei ihm eine Lehre beginnen, was unbedingt verhindert werden soll. Der Friseur taucht später in New York wieder auf, Dominika wird ihn kennenlernen als Freund einer reichen Polin, der sie in der alten Muttersprache gegen Bezahlung vorliest. In solcher Weise beginnt Joanna Bator immer wieder Erzählstränge, die scheinbar ebenso frei assoziierend aufgenommen werden, wie sie sich ohne formalen Abschluss auch wieder verlieren. Ein Nachttopf, den Napoleon auf seinem Russland-Feldzug benutzt haben soll, taucht in all diesen Erzählsträngen immer wieder auf, wird von einer Figur zur anderen weitergegeben, ohne dass dies für die Geschichten von weiterer Bedeutung wäre. Dieses Erzählen ohne erkennbare Pointe ist überhaupt eines der wichtigsten und - es mag zunächst paradox klingen - auch eines der spannendsten Merkmale von Joanna Bators Stil. Denn tatsächlich hängen ja alle Personen und alle Geschichten von »Wolkenfern« aufs Engste zusammen, freilich erkennen dies die Personen im Roman gar nicht, oft auch nicht, wenn ihnen vermeintlich deutlichste Hinweise vorliegen. Und, so ist man beim Lesen geneigt zu glauben, auch die Autorin habe die Zusammenhänge wenn nicht aus dem Blick verloren, so doch einigermaßen desinteressiert abgetan. Umso eifriger wird darum Leserin und Leser selbst, wenn es darum geht, den Roman als Einheit zu erfassen: Ein raffinierter Trick der Autorin, die ihr Publikum gerade durch das Ausbleiben des immer wieder erwarteten Wiedererkennens produktiv einspannt; auf diese Weise werden allein durch die Erzählführung Familien-, Bekanntschafts- und Freundschaftsbande umso intensiver gelesen und so regelrecht zu einer eigenen Geschichte der Leserin oder des Lesers gemacht. »Wolkenfern« ist somit zunächst als Mischung aus Episoden- und Familienroman angelegt, aber Joanna Bator konterkariert dann auf der Ebene der Romanereignisse das beiden Romanformen ureigene Streben nach dem inneren Zusammenhalt, nur um diesen Zusammenhang schließlich dadurch umso stärker erscheinen zu lassen, indem sie ihn durch die allwissende Leserin bzw. den allwissenden Leser selbst (und nicht durch eine allwissende Erzählerin) entstehen lässt. Ein packendes queeres Lesevergnügen, das regelrecht süchtig macht.
(Veit empfiehlt - Sommer 2015)
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