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Didier Eribon: Rückkehr nach Reims

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims

Dt. v. Tobias Haberkorn. D 2023, 238 S., Pb, € 12.40
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Suhrkamp
Inhalt
Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« ist sicherlich keine Lektüre für ein breites Lesepublikum. Diese Memoiren eines schwulen Mannes aus der französischen Arbeiterklasse (und auch Provinz), dem es gelingt, als erster seiner Familie das Gymnasium und ein Universitätsstudium abzuschließen, erinnert über weite Strecken an Edouard Louis' »Das Ende von Eddy« - Parallelen zwischen den Leben dieser beiden Autoren sind (wenn auch zeitlich versetzt) unübersehbar. Zentraler Moment ihrer beider Lebensgeschichten ist der radikale Bruch mit ihrem homophoben, brachialen, proletarischen Herkunftsmilieu und ihren Familien. Allerdings geht Eribon über die reine Beschreibung seiner Lebensgeschichte weit hinaus. Er ordnet die eigene Biografie in einen größeren Zusammenhang ein, der aus soziologischer, soziopolitischer und sozialphilosophischer (auch marxistischer) Theorie abgeleitet ist. Im ersten Moment wirken diese soziologischen Einschübe in die Memoiren etwas befremdlich (die ersten Memoiren mit Fußnoten, die ich gelesen habe). Man fragt sich, was das soll. Doch je mehr Eribon voranschreitet, umso fruchtbarer erweist sich diese Kombination.

Lange Zeit - so Eribon - sei er davon ausgegangen, dass er sich vor seiner Herkunftsfamilie für sein Schwul-sein geschämt und deshalb das Weite (sprich: die tolerantere Welt der Hauptstadt) gesucht habe. Er sieht sich als Vertreter einer Theorie der Scham. Doch zunehmend sei ihm während des Studiums, seines Lebens in Paris und dem damit verbundenen sozialen Aufstieg klar geworden, dass er sich viel mehr für seine gesellschaftliche Herkunft im Proletariat geschämt habe. Dies führt er auf einen Prozess der Entfremdung zurück, der durch die schulische und später universitäre Karriere angestoßen und durch sein Aufgehen in der schwulen Subkultur samt der Übernahme der schwulen Identität schließlich abgeschlossen worden sei. Mit zunehmender Unabhängigkeit von seinem Zuhause, die durch Verachtung und Gewalterfahrungen beflügelt worden ist, kommt es schließlich auch zum Bruch. Über Jahrzehnte verweigert Eribon jeden Kontakt mit seinem Vater, den er zu hassen glaubt. Erst kurz vor dessen Tod steht für Eribon die Rückkehr nach Reims an und ein Wiedersehen mit der Mutter. Der Vater erkennt ihn nicht mehr. Nun macht Eribon seinen Frieden mit der Heimatstadt und beginnt diese Memoiren zu schreiben. Dabei geht er weder mit sich selbst noch mit seiner Herkunftsfamilie noch mit dem proletarischen Milieu noch mit der französischen Politik im Allgemeinen zimperlich um.

Im Zuge seiner Ausführungen hält der Autor echte Hämmer parat, die durchaus auch für Österreich in ihrer Aussagekraft nicht von der Hand zu weisen sind. Am Beispiel seiner eigenen Familie zeigt er auf, wie es sein konnte, dass ein Milieu, das bis weit hinein in die 1980er Jahre durch die Bank die extreme Linke (also kommunistisch) gewählt hat, heute ebenso durch die Bank die extreme Rechte (also Front National) wählt. Seine Erkenntnisse sind ebenso ernüchternd wie sie tief blicken lassen. Fast hundert Jahre lang haben Vertreter der Arbeiterparteien sich in dogmatischer Sicherheit gewiegt, dass die extreme Linke (insbesondere die Kommunistische Partei) quasi ein Abo auf die Stimmen der Proletarier hätte. Doch dem sei nicht so. Solange die KP die Interessenvertretung für die Arbeiter übernommen habe, hätten die Proletarier auch brav links gewählt. Aber in dem Moment, als die KP anfing weltfremd zu werden und in ideologischer Selbstverliebtheit abzuheben, wäre dieser nur geglaubte Zusammenhang verloren gegangen. Und da habe der Front National mit nationalistischen, rassistischen, reaktionären, rechtspopulistischen Glücksversprechen plötzlich begonnen zu punkten - etwas, das nach kommunistischer Ideologie faktisch unmöglich hätte sein müssen.

Ein weiterer Punkt bei Eribon rekurriert auf die Homosexualität. Er schildert eine Situation, als er in seiner Heimatstadt als 17-jähriger eine Arbeitsstelle innegehabt hat. Eine ältere Kollegin machte sich hinter dem Rücken des Chefs über dessen Homosexualität lustig. Sie hätte ihn dabei beobachtet, wie er an einem beliebten Cruisingort der Stadt nach Sexpartnern gesucht habe. Nur so erfährt Eribon überhaupt von der Existenz dieses Ortes, um andere Schwule kennenzulernen, und geht selbst hin. Diesmal wird er von der Kollegin beobachtet. Es entsteht eine seltsame Komplizenschaft, in der »sie wusste, dass ich wusste, dass sie wusste, wer ich war«. Er spürt das Machtspiel, das sich aus dem Wissen ergibt und in dem die Heterosexuellen immer den längeren Arm haben durch eine Art heterosexueller Hegemonie. Dies führt zu dem Getrieben-sein, die schwule Orientierung vor anderen zu verbergen, einem ständigen Versteckspiel, das auf Schamgefühlen basiert. Außerdem würden Beschimpfungen, spitze Bemerkungen und die Formen homophober Gewalt zu psychischen Blessuren führen, die man als Homosexueller ein Leben lang mit sich herumträgt und niemals wirklich ganz überwinden kann. Eribons Gedanken zu diesem Thema sind außerordentlich reflektiert und gehen in die Tiefe. Sie sind unterfüttert mit eigenen Erfahrungen. Überhaupt enthalten seine Thesen und Resümees immer wieder einen echten Mehrwert. Auch die Zusammenhänge, die er herstellt, sind immer wieder erhellend und regen zum Nachdenken an. Die Herleitung der kritisch gesehenen Gegenwart aus einer bestimmten, persönlich gesehenen Vergangenheit, ist völlig plausibel. Ihm als Intellektuellen erscheinen dabei die gelesenen Bücher (Sartre, Genet, Foucault, Bourdieu etc.) als Meilensteine auf dem Weg zu dem, der er geworden ist. Anders als Andere setzt er diese nicht voraus, sondern ordnet sie ein in Hinblick auf die Wirkung, die sie bei ihm entfaltet haben. Daher auch die Fußnoten.

Mich hat dieses Buch sehr berührt. Ich habe Ähnlichkeiten zwischen Eribon und mir selbst erkannt. Auch ich bin ein Arbeiterkind. Auch ich habe als Erster in der Familie Abitur gemacht und eine Uni abgeschlossen. Auch ich habe Soziologie studiert. Auch ich durfte die stillschweigende Homophobie des proletarischen Milieus erleben. Auch ich habe mich für die Herkunft geschämt. Auch bei mir ist es zum Bruch mit den Eltern gekommen (wenn auch nicht in der Radikalität, wie Eribon sie beschreibt). Auch bei mir hat die glückliche Fügung schwul zu sein eine Wende im Leben zu einem unwahrscheinlichen Aufstieg über den Horizont der Arbeiterklasse hinaus bewirkt. Und so haben manche Dinge - in einem neuen Licht und größerem Zusammenhang betrachtet, wie die Lektüre von »Rückkehr nach Reims« es nahelegt - durchaus mehr Sinn ergeben als gedacht.

»Rückkehr nach Reims« ist ein einprägsames Buch, für das man sich Zeit nehmen muss, damit es die volle Wirkung auf den Leser entfalten kann. Man muss eventuell mehrmaliges Lesen und Geduld in Kauf nehmen, um hinter die eingebetteten Wahrheiten zu kommen, die sich nicht leicht erschließen. Wer diese Mühe auf sich nimmt, wird mit vielen Erkenntnissen belohnt. Ein Buch zum mehrmaligen Lesen.

Jürgen empfiehlt - Herbst 2016)

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