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Gabriel Wolkenfeld: Wir Propagandisten

Gabriel Wolkenfeld: Wir Propagandisten

Mit Nachwort des Autors. D 2023, 299 S., geb., € 24.70
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Albino
Inhalt
Für ein Jahr bekommt Gabriel Wolkenfeld als Dozent für Deutsch einen Job an der Uni in Jekaterinburg. Dort soll er jungen Studentinnen und Studenten in deutscher Sprache und Kultur unterrichten. Für Gabriel ist das nach dem Studium eine erste berufliche Chance - gleichzeitig nicht ohne Risiko. Er hat wenig Ahnung vom heutigen Russland. Sein Russisch - obwohl er u.a. Russisch studiert hat - ist noch eher bröckelig. Und er ist schwul. Letzteres - das ahnt er schon - ist im heutigen Russland unter Putin keineswegs eine Empfehlung. Er entschließt sich, das eher geheim zu halten.
Über das Internet freundet er sich mit schwulen Jungs in Jekaterinburg an, die er dann mal hofft zu treffen. Ein wenig wie ein Kulturschock gestaltet sich für ihn die Ankunft in der russischen Provinz - denn Jekaterinburg am Ural (der Ort, an dem der letzte Zar und seine Familie inhaftiert waren und heute begraben liegen) ist reinste russische Provinz. Dabei hat die Stadt mehr als 1 Mio. Einwohner. Alles in Jekaterinburg wirkt irgendwie rückständig, wie aus der Zeit gefallen, dreckig, im Verfall begriffen. Die Hauptstadt ist weit entfernt - der Westen umso mehr. Die Leute dort sind oft grummelig und eigenartig. Der Winter mit seiner zermürbenden Kälte ist im Anmarsch. Überall ist Schlamm.
Der Start an der Uni nimmt für Gabriel kafkaeske Züge an. Unendlich viele bürokratische Hürden werden ihm in den Weg gelegt. Aber für alle dort ist es so normal. Man kennt nichts Anderes als Lethargie und Anpassung bis zur Selbstaufgabe. Eigenständigkeit wird nicht gern gesehen und gegebenenfalls bestraft. Einen eigenen Willen kennt man dort eher als Sand im Getriebe, den aber niemand gestreut haben will.
Immerhin kann sich Gabriel der Hilfe seiner neuen russischen Freunde sicher sein, die er über die Social Media und vor allem schwule Portale kennengelernt hat. Sie geben ihm gute Ratschläge für alle Fälle - dem Neuling, dem Exoten. Wieso verschlägt es jemanden wie ihn ausgerechnet nach Jekaterinburg? Das fragen sich alle - versuchen mit dem Deutschen umzugehen. Für manche dient er als Projektionsfläche ihrer Vorstellungen vom heutigen Deutschland. Manche freuen sich über den Fremden, der etwas frischen Wind in die Provinz bringt. Andere legen ihm nahe, sich anzupassen, um Ärger zu vermeiden. Hart wird es für Gabriel, als im Rahmen seiner Gesundenuntersuchung auch noch ein verpflichtender Aidstest von ihm verlangt wird. Die Angst ist riesig - was wäre wenn ausgerechnet jetzt?
Allmählich richtet sich Gabriel dann in der neuen Umgebung ein. Er hat einen österreichischen Heterokollegen, mit dem er die Wohnung teilt und mit dem er sich ganz gut versteht. Er wundert sich über die Artigkeit seiner Studentinnen, die gewohnt sind, gesagt zu bekommen, wofür sie sich zu interessieren und wie sie Dinge zu sehen haben. Er gründet einen Filmclub, um über seine Studentinnen hinaus Interessierte anzusprechen und der Einöde des Unialltags wenigstens einmal wöchentlich zu entgehen. Der Filmclub avanciert auch zum Treffpunkt für seine neuen (überwiegend schwulen) Freunde.
Immer wieder lernt Gabriel neue Jungs kennen. Mit einem - Mitja - verbindet ihn schon von Anfang an fast so etwas wie eine Beziehung. Jedenfalls haben sie Sex miteinander. Und Mitja verbringt viel Zeit in der Wohngemeinschaft - wirkt schon fast wie ein Anhängsel Gabriels. Er ist sein ständiger Begleiter und reagiert eifersüchtig bis unwirsch auf potenzielle Konkurrenten. Doch Gabriel geht das alles zu weit - er möchte unabhängig bleiben. Er geht gern weg (ja - es gibt eine schwule Disco in Jekaterinburg, in der sich die Schwulen der Stadt treffen) - und macht Bekanntschaft einer anderen Eigentümlichkeit der Russen - sie lassen sich bei jeder Gelegenheit mit Alkohol - am besten mit Wodka - volllaufen. Im Gegensatz zu seinen neuen russischen Freunden verträgt Gabriel nur wenig und hat deswegen einige schlimme Tage, an denen er sich krank meldet, bzw. halbtot zum Unterricht erscheint. Allen von Gabriels russischen Freunden scheint gemeinsam zu sein, dass sie völlig ungeoutet oder nur sehr eingeschränkt geoutet sind - etwas, das Gabriel anfangs unwirklich erscheint. Mit der Zeit aber nimmt er weniger Anstoß daran. Alle haben gute Gründe, warum sie einen Bogen ums Coming-out machen, warum sie diesem und jenen nichts davon erzählen. Gabriel kommt da aus einem völlig konträren Zusammenhang, in dem eigentlich das Gegenteil der Fall ist. Mit der Zeit - er versteht ihre Mentalität und die Begründungen mehr - nimmt er die Angst vor dem eigenen Coming-out bis hin zum schwulen Selbsthass als gegeben hin.
Genau in die Zeit, als Gabriel das Jahr in Jekaterinburg verbringt und als Dozent arbeitet, fällt die Entscheidung der Duma in Moskau ein Gesetz gegen die sog. »Homosexuellen-Propaganda« einzuführen, mit dem es Menschen aus angeblichen Jugendschutzgründen verboten werden soll, in der Öffentlichkeit positiv für Homosexualität Stellung zu nehmen. Im Grunde werden dadurch Paraden verboten - auch das Zeigen der Regenbogenflagge wird unter Strafe gestellt. Letztendlich sollen die Schwule und Lesben durch dieses Gesetz mundtot gemacht und in die Selbstverleugnung gezwungen werden.
Für die Schwulen in Wolkenfelds Buch liegen die Absichten, die hinter der Gesetzesinitiative stehen, auf der Hand: sie sollen unsichtbar gemacht werden - man will sie komplett aus der Öffentlichkeit abdrängen. Putin braucht Minderheiten, auf denen er herumhacken kann, um vor der Bevölkerung als starker Macker dazustehen. Der Schock - bis hin zur Angst, es könnte wieder ein Totalverbot wie in Sowjet­zeiten geben - trifft diese Schwulen um Gabriel tief, lähmt sie. Sie sehen keine Zukunft mehr - vor allem nicht in Russland. Einige wollen weg. Andere bereiten sich auf die innere Emigration vor. Die Zukunft in Russland erscheint düster. Gabriel beobachtet dieses Entsetzen, die Ängste, die Lähmung.
Gabriel, der Proteste, ja einen Aufstand erwartet hätte, den es im Westen geben würde, wenn dort irgendeine Regierung auf die blöde Idee verfallen würde, ein solches Gesetz einzuführen, ist verblüfft, dass sein Freunde eher zu Flucht und Kuschen neigen, dass eigentlich niemand auf die Idee kommt, Widerstand gegen das Gesetz zu leisten. Die Geschichte von Pussy Riot ist noch ganz frisch. Die allgemeine Lethargie, die diese Gesellschaft im Griff hat, holt auch diese jungen Männer ein. Allmählich bereitet sich Gabriel auf die Rückkehr vor - für ihn hat der Albtraum ein Ende. Doch er bleibt über das Internet in Kontakt mit den Freunden in Russland. Zunehmend werden homophobe Gruppen aktiv, die es auf Schwule abgesehen haben. Neben Einschüchterungen im Internet greifen sie auch zu Tricks, indem sie hübsche Jungs als Köder benutzen, um Schwule über Verabredungen in die Falle zu locken. Auch betreiben sie regelrechte Hetzjagden auf Schwule. Es ist ein neues gesellschaftliches Klima im Entstehen, das mit dem neuen Gesetz einhergeht. Schwule können sich in Putins Russland nicht mehr ihres Lebens sichersein - sicher sein können sie, dass im Falle eines Übergriffs die Polizei ein Auge zudrücken wird und man ihnen sagt, sie seien als Schwule selbst schuld.
Ich fand Gabriel Wolkenfelds autobiografischer Roman sehr aufschlussreich. Er macht viel vom Zustand der russischen Region und von der russischen Provinzmentalität sichtbar - er zeigt, wie sich Homophobie in einer abgelegenen Region allmählich durchsetzt und welchen Impakt eine gesetzliche Fassung einer staatlich geförderten Homophobie bei den Betroffenen bis hin zur Panik und Auswanderungsgedanken bewirkt. Das Buch ist sehr griffig - nahe am inneren Monolog geschrieben. Es schaut tief hinein in den Erzähler, aber auch in die ihn umgebenden Personen - mit ihren Ängsten, den Stimmungen, aber auch mit ihrem grundsätzlichen Denken, den Prägungen, den Vorurteilen. Zum Ende hin wird es durchaus politisch, ohne diesen Aspekt überzustrapazieren. Das Buch ist gut geschrieben - man kann es aber auch rein informativ lesen. Es ist eine Zustandsbeschreibung der aktuellen russischen Seele, nicht nur der schwulen russischen Seele.

(Jürgen empfiehlt - Herbst 2015)
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