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Alan Hollinghurst: Des Fremden Kind

Alan Hollinghurst: Des Fremden Kind

Dt. v. Thomas Stegers. D 2012, 687 S., TB, € 12.33
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Heyne
Inhalt
George und Cecil haben sich Anfang des letzten Jahrhunderts an der Universität Cambridge kennen gelernt und sind ein verliebtes Paar. Cecil stammt aus reichem Landadel und ist bereits ein Insidern bekannter Lyriker, seine symbolisch aufgeladenen, pathetischen Gedichte treffen den Geschmack der Zeit. George dagegen kommt aus bürgerlichem, wenngleich wohlhabenden Elternhaus. Cecil arbeitet gerade an einem Liebesgedicht an George, als er ihn in seinem Elternhaus "Two Acres" besucht. Als Georges kleine Schwester Daphne unbedingt etwas in ihr Poesiealbum geschrieben haben möchte, widmet er ihr eine geglättete Variante der Liebeserklärung an George, was wegen des blumigen Stils nicht weiter auffällt. Wenig später veröffentlicht Cecil eine weitere überarbeitete Variante in einer Zeitschrift. Im ersten Weltkrieg fällt Cecil, und als Churchill zwei Zeilen aus "Two Acres" zitiert, wird der Text nicht nur berühmt, sondern sogar so etwas wie ein Nationalgedicht. In der Zwischenkriegszeit lässt Cecils Familie eine Biografie über Cecil verfassen und versammelt in ihrem Schloss alle, die mit ihm engeren Kontakt hatten. Auch wenn der Biograf offenkundig selbst schwul ist - keiner rührt an Cecils Homosexualität, geschweige denn an seine Beziehung zu George. Dabei wissen oder ahnen alle etwas, wie beispielsweise Georges Mutter: diese hat die Liebesbriefe von Cecil und George gefunden und gelesen. Auch George will keinesfalls, dass seine Affäre zu Studienzeiten ans Licht kommt. Zwei Jahrzehnte später, nach dem zweiten Weltkrieg ist Englands Gesellschaft dann völlig umgekrempelt. Ein Großteil des Adels ist verarmt und hat auf alle Fälle die meisten seiner Ansprüche verloren. So auch die Familie Cecils, das Schloss ist jetzt eine Privatschule, in der der junge und ambitionierte Peter als Lehrer unterrichtet. Seine Faszination für den Dichter, den dieses Haus einmal hervorgebracht hat, teilt er mit Paul. Peter und Paul - für ihre schwulen Freunde scheinen sie als Paar für einander bestimmt zu sein, doch ihre Beziehung hält nicht lange. Und entgegen aller Erwartung ist es Paul, der es mit mühevollen Recherchen schafft, eine moderne Biografie Cecils zu schreiben, die dessen schwules Leben zumindest benennt. Doch erst einem einstigen Schüler Peters gelingt es zu Beginn des neuen, 21. Jahrhunderts durch überraschende Funde verloren geglaubter Texte, den schwulen und immer wieder geleugneten und verdrängten Hintergrund von Cecils Dichtung zu belegen. - Der neue Roman von Alan Hollinghurst lässt sich auf mehreren Ebenen spannend lesen. Zunächst ist er natürlich ein faszinierender Jahrhundertroman, der den dramatischen Umbruch der englischen Gesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg und die rasante Veränderung der 60er und dann der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts beschreibt. Als schwuler Roman kontrastiert er der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung (weg von der Dominanz des Adels über den Aufstieg einer gebildeten Mittelschicht bis hin zur völligen Auflösung ständischer Einflüsse auf den gesellschaftlichen Umgang miteinander) die dramatischen Veränderungen schwulen Lebens. Die Beziehung von Cecil und George wurde noch in keiner Weise gesellschaftlich wahrgenommen, die beiden sprachen noch unbeholfen von »unserer sodomitischen Affäre«. Natürlich sorgten die beiden dafür, dass sie nicht allzu offensichtlich als Paar wahrgenommen wurden, freilich hätte sie ihre Umgebung - festgefügt in traditionelle Vorgaben des Verhaltens und Wahrnehmens - auch gar nicht angemessen sehen können, eine schwule Beziehung kam schlicht nicht vor. Im Laufe der Jahrzehnte konnten sich Schwule umso mehr emanzipieren und infolgedessen öffentlich wahrgenommen werden, wie die Gesamtgesellschaft ihre traditionellen Vorgaben verlor. Zu Beginn des neuen Jahrtausends haben dann Schwule ihrerseits Formen und Konventionen ihres gesellschaftlichen Umgangs ausgebildet und reproduzieren ironischerweise sogar diejenigen Mechanismen, die 100 Jahre zuvor noch ihre Ausgrenzung bewirkten. Alan Hollinghurst beschreibt dies in 5 Szenen, die die Umbrüche schlaglichtartig beleuchten und zugleich die Geschichte eines schwulen Autors und eines schwulen Gedichts erzählen. Fast alle Szenen sind im weiteren Sinne Party-Szenen - Festessen, Familientreffen, Geburtstag, Trauerfeier - lediglich das vierte Kapitel scheint zu zerfallen, keine feste Form zu haben. Und weil Alan Hollinghurst gerade bei der Beschreibung von Partys nicht nur in »Des Fremden Kind« literarische Glanzleistungen vollbringt (die Episode in seinem letzten Roman »Die Schönheitslinie«, in der Maggie Thatcher auf einer Tory-Party auftaucht war nachgerade spektakulär), wurde ihm dieses Kapitel in der Kritik schon mehrfach angekreidet. Dabei liegt genau hier das Herz der Geschichte, denn Alan Hollinghurst ist kein Chronist untergehenden Establishments. Seine feine Sprache und sein ausgeprägter Sinn fürs Nebensächliche erzählen vom Entstehen von Freiheit, vom Nährboden, den gerade Ruinen für neues Leben abgeben. Dass das Alte stürzt, ist somit nur eine Nebenbedingung für Erneuerung, die Auflösung von Ordnung ist das Entscheidende - und so ist »Des Fremden Kind« auch eine harte Kritik am gegenwärtigen schwulen Leben, das sich in seinen Möglichkeiten den gesellschaftlichen Verwüstungen der Nachkriegszeit und der 60er Jahre verdankt, jetzt aber seinerseits zusehends in willig adaptierten Formen und Konventionen im wahrsten Sinne gesellschaftsfähig geworden ist. Dass der umtriebige schwule Antiquar in der Schluss-Szene die Suche nach dem letzten großen Dokument aus dem Umfeld Cecils abbricht und in Kauf nimmt, dass ein Abriss-Bagger alles zerstören wird, weil ein Date gerade wichtiger ist, erscheint darum nur beim ersten Lesen schockierend. In Wahrheit ist es das hoffnungsvolle Ende eines spannenden, großen schwulen Romans. (Veit empfiehlt, Winter Katalog 2012)
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