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Claire Waldoff: Weeste noch ...!

Claire Waldoff: Weeste noch ...!

Aus meinen Erinnerungen. D 2013, 191 S. mit zahlreichen Abb., geb., € 18.50
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Steidl
Inhalt
Heute würde man sie als Trendsetter bezeichnen. Zu ihrer Zeit war sie ein Kuriosum, dass die Zensur auf den Plan rief: Claire Waldoff. Heute – da eine Conchita Wurst durch ein ganz anderes, viel expliziteres Spiel mit den Geschlechtergrenzen für Furore sorgt – erscheint einem das, mit dem Claire Waldoff Staub aufwirbelte, geradezu harmlos. Im Prinzip ging es aber um genau dasselbe – darf frau Geschlechtergrenzen modisch überschreiten? Und was wenn es nicht nur um Mode allein geht, sondern auch um eine andere Sexualität – und ums Persiflieren gesellschaftlicher Zustände? Was hatte Claire Waldoff – die irgendwann als Inbegriff der frechen Berliner Schnauze, der Berliner Göre galt – Schlimmes getan? Ursprünglich kam sie aus dem Ruhrgebiet und nahm als beginnende Schauspielerin den Künstlernamen »Claire Waldoff« an. Ihr Beruf führte sie 1906 nach Berlin. Auch wenn sie 1915 ihren ersten Leinwandauftritt hatte, verschrieb sie sich doch dem Kabarett. Ihre Auftritte als Chansons und kritische Lieder singende Kabarettistin waren schnell legendär und gut besucht. Berühmt gemacht hat sie ihr Outfit, in dem sie radikal mit Konventionen brach: Bubikopf und Hosenanzüge wurden ihr Markenzeichen. Sie war damit eine Vorreiterin der späteren Drag Kings. Und zu ihrer Zeit war es für eine Frau noch echt mutig, sich als Mann zu kleiden – überhaupt sich als Mann zu gerieren. Heute – gerade unter Lesben sieht frau nur Hosen, so gut wie keine Röcke mehr – kommt einem das seltsam vor. Doch am Ende der wilhelminischen Ära und selbst noch unter den geänderten, liberaleren Bedingungen der Weimarer Republik konnte frau mit Hosenanzügen und Kurzhaarschnitt anecken. Selbst im Berlin der goldenen Zwanziger gab es regelmäßig Probleme mit den Behörden. Die Auftritte der Waldoff sollten immer wieder verboten werden. Der Herr Direktor – wie sie mehrfach in ihren Memoiren beschreibt – bekam immer wieder kalte Füße vor ihren Auftritten, weil sie ihm zu gewagt und zu frech erschienen. Gerne hätte er Kompromisse gesehen oder der bösen Kritik die Spitze genommen. Doch sie ließ sich durch nichts unterkriegen, ging selbstbewusst und unbeirrt ihren Weg, ließ sich nichts verbieten und zeigte den Lokalbesitzern die Stirn. Erst mit den Jahren der Nazidiktatur war ihr kein derart großer Erfolg mehr beschieden. Das lag bestimmt auch an ihrer bösen Zunge und ihrer kompromisslosen Bissigkeit, die der Obrigkeit nicht gefallen konnte und die ein Interesse daran hatte, sie mundtot zu sehen. Mit ihrem typischen Outfit wurden sie und ihre Freundin/Lebenspartnerin Olga von Roeder zu einem stilprägenden Paar des Berliner Nachtlebens in den Goldenen Zwanzigern. Lesben nahmen sich an ihnen ein Beispiel und machten diesen neuen, gewagten Stil populär in bestimmten Kreisen. Selbst spätere Weltstars wie Marlene Dietrich oder Greta Garbo ließen sich durch diesen »vermännlichten« Stil bei den Frauen in ihrer eigenen Kleidung beeinflussen und trugen ihn später selbst über den Film in die Welt. Anders als spätere Moden popularisierte sich dieser Stil nicht wirklich über die Lesbenszene hinaus, wurde immer als gewagt und lasziv empfunden und blieb im Wesentlichen auf die lesbische Community beschränkt. Es blieb erst späteren Jahrzehnten vorbehalten, Hosen für Frauen und Bubikopf-Haarschnitte akzeptabel und hoffähig zu machen. Wie man aber am Aufruhr um Conchita Wurst sehen kann, ist dieser Kampf für mehr Toleranz und die Freiheit des einzelnen, sein Bild in der Öffentlichkeit nach eigenen Vorstellungen zu wählen und zu gestalten, noch lange nicht zu Ende ausgestanden. Auch wenn die Waldoff durch ihr Outfit in der Berliner Lesbenszene zum bunten Hund avancierte, blieb das nicht lange so – denn schnell fand sie sehr viele Verehrerinnen, die den Waldoff-Stil kopierten. Zudem gewann sie durch ihre Soloauftritte in Varietés und mit legendären Rundfunk- und Schallplattenaufnahmen, die zu Gassenhauern wurden, viele Fans. Aber nicht nur die Tatsache, dass sie ein beliebter, gefeierter Kabarettstar ihrer Zeit war, machte sie zum Mittelpunkt der Lesbenszene – auch betrieb sie mit ihrer Lebensgefährtin zusammen einen Salon, in dem sich Lesben über politische und kulturelle Fragen austauschten. Durch ihn stand sie in freundschaftlichem Kontakt mit Künstlern wie Kurt Tucholsky und Heinrich Zille. 1953 erschienen Claire Waldoffs Memoiren »Weeste noch …!« zum ersten Mal. Der LSD Verlag hat nun eine schön gestaltete, neue Ausgabe dieser Erinnerungen aufgelegt, die – obwohl nicht sehr explizit – einen Meilenstein der Lesbenbewegung darstellen. Abgesehen von einigen Beobachtungen, in denen schöne Frauen der Autorin in die Augen stechen und wundervoll beschrieben sind, steht im Vordergrund das künstlerische Leben, die Aufs und Abs, die die Waldoff erleben muss, den Kampf mit den Herren Direktoren, die ihr Steine in den Weg legen wollen, überhaupt ihre fulminante Persönlichkeit, die sich selbst unter widrigen Umständen als unbeugsam und zu ironischem Widerstand fähig erweist – ihre Waffe ist der Gesang. Die Neuausgabe der Waldoff-Memoiren ist mit zahlreichen Fotos und Illustrationen garniert, ist wirklich schön geworden und eignet sich daher auch gut als Geschenk. Am Ende des Buches sind auch einige Zeitungsausschnitte wiedergegeben, die über die Waldoff da und dort erschienen waren und die sie selbst gesammelt und für diese Memoiren vorgesehen hat. Für die Empfehlung dieser Memoiren führte ich mir noch einmal den Inhalt des Buches und die Biografie der Waldoff vor Augen. Das fiel zufällig mit dem Wochenende zusammen, an dem das Finale des heurigen Eurovision Song Contests stattfand – just das, welches Österreich dank Conchita Wurst einen Sieg bescherte. Unabwendbar drängten sich mir die Parallelen auf – von damals mit heute. Heute – rund hundert Jahre nach dem großen Erfolg der Waldoff – ist unverständlich geworden, wie man sich über »so was« wie Hosenanzüge, Frauenkrawatten und Bubiköpfe so aufregen, ja ereifern konnte. Wir sind ja heute so viel moderner und toleranter geworden. Doch stimmt das wirklich? In noch einmal hundert Jahren werden unsere Nachfahren vielleicht auf »unsere« Bestürzung, »unsere« Skepsis, »unsere« Anfeindungen, »unser« Unverständnis gegenüber einem Menschen wie Conchita Wurst mit einem Kopfschütteln herabblicken. Mal sehen, worüber man sich dann wird aufregen können – in hundert Jahren.
(Jürgen empfiehlt - Sommer 2014)
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