Was ist ein lesbisches oder ein schwules Buch?

Von Veit Georg Schmidt

Sonette von Shakespeare

Sonette von Shakespeare

Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, was eigentlich ein schwules oder lesbisches Buch sei. Vermeintlich eine einfache Frage, die eine komplizierte Antwort erwarten lässt, denn „lesbisch“ oder „schwul“ bezieht sich ja zunächst einmal auf Menschen und kann nur in einer abgeleiteten Bedeutung auf Bücher bezogen sinnvoll sein. Tatsächlich ist es aber genau umgekehrt: Die Antwort ist einfach, die Frage hingegen versteckt oft ein ganzes Bündel an Verunsicherungen, die von blanker Ignoranz über betretene Peinlichkeit bis hin zur Abwehr lesbischer und schwuler Ansprüche reichen.

Zunächst also zur Antwort, die insbesondere aus der Sicht einer gut sortierten lesbisch-schwulen Buchhandlung so einfach ist: Lesbisch oder schwul ist ein Buch immer dann, wenn es in einer lesbisch-schwulen Buchhandlung steht. Diese Formel fasst verschiedene Aspekte der Wahrnehmung von Büchern und des Umgangs mit ihnen zusammen und stellt vor allem die Zusammenstellung und die Präsentation in den Vordergrund, nicht aber ein objektives, ein dem Buch wie eine Essenz anhaftendes Merkmal.

Entscheidend für die Charakterisierung eines Buches als lesbisch oder schwul ist nämlich nicht, ob Autorin oder Autor lesbisch oder schwul waren oder sind; ob schwule oder lesbische Figuren vorkommen oder lesbisch-schwule Lebenszusammenhänge geschildert werden. All dies trifft oft gar nicht oder nur zum Teil zu; ob Autorinnen oder Autoren lesbisch oder schwul waren oder sind, wissen wir oft gar nicht; Literatur lebt häufig von Andeutungen und lässt Sachverhalte uneindeutig erscheinen, sodass auch im Blick auf Figuren oder Handlungszusammenhänge regelmäßig Homosexualität nur eine Deutungsmöglichkeit unter anderen ist. Ließen wir uns auf diese Vorgaben zur Charakterisierung eines Buches als lesbisch oder schwul ein, so bliebe uns als harter Kernbestand bald nur noch die erotische und pornografische Literatur, überall sonst kann die Charakterisierung als lesbisch oder schwul mehr oder weniger stark bestritten, zumindest eingeschränkt werden.

Ein Buch ist lesbisch oder schwul, wenn es in einer lesbisch-schwulen Buchhandlung steht – das heißt, es kommt darauf an, dass jemand dieses Buch ausgewählt und einer interessierten Öffentlichkeit als solches präsentiert hat. Wenn Auswahl und Präsentation die entscheidenden Vorgänge sind, die ein Buch schwul oder lesbisch machen, heißt das, dass es darauf ankommt, wie ein Buch gelesen wurde und wie man diese Leseerfahrung mit anderen teilen kann. Auswahl und Präsentation verbinden Individualität und Gemeinschaft – genau so, wie lesbisch oder schwul zu sein immer eine Verbindung von individueller Erfahrung und gesellschaftlichem Austausch ist. Lesbisch oder schwul zu sein, sind nämlich nicht nur einfache individuelle Merkmale wie Haar- oder Augenfarbe oder Rechts- oder Linkshänder zu sein. Schwul oder lesbisch zu sein ist identitätsstiftend, es durchdringt unser gesamtes Leben und ist darum auch ein soziales Merkmal. Im Blick auf Bücher ist die lesbisch-schwule Buchhandlung darum ein Katalysator: Bücher müssen ausgewählt werden, sei es, dass sie von den Buchhändlerinnen und Buchhändlern in Verlagsvorschauen gefunden wurden, sei es, dass es bereits literarische Berichte über diese Bücher gibt und sie so entdeckt wurden – sei es, dass Kundinnen und Kunden über ihre Leseerfahrungen berichten und so das Programm der Buchhandlung erweitern.

Sehr schnell, so möchte man meinen, würde nun jedes Buch zumindest der Möglichkeit nach lesbisch oder schwul, denn alles und jedes könnte ja so Eingang ins lesbisch-schwule Sortiment finden. Doch die schwul-lesbische Buchhandlung setzt auch Grenzen – das muss sie nicht nur aus Platzgründen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen: Die Bücher in einer lesbisch-schwulen Buchhandlung müssen verkäuflich sein. Dieses vermeintlich schnöde Kriterium bedeutet aber nichts anderes, als dass es auch ein zumindest erwartbares lesbisch-schwules Interesse an den ausgewählten Büchern geben muss. Auswahl und Präsentation des Sortimentes einer lesbisch-schwulen Buchhandlung sind also genau diejenigen Vorgänge, die individuelles Lesen und gesellschaftlichen Austausch über Leseerfahrungen greifbar und erfahrbar machen. Gerade der wirtschaftliche Druck, Bücher auch verkaufen zu müssen, ermöglicht somit die Chance auf eine lebendige Entstehung und vor allem auch: Veränderung dessen, was wir als lesbische und schwule Bücher wahrnehmen.

Ungleich komplizierter sind die Motive dafür, die Frage: „Was ist denn überhaupt ein lesbisches oder schwules Buch?“, zu stellen. Denn rein aus Interesse für die Sache wird die Frage am seltensten gestellt. Zwar lässt sich Verunsicherung wie ein roter Faden immer wieder erkennen, die Motivlagen sind jedoch vielfältiger.

Abwehr steht in vielen Fällen hinter der Frage, wenn sie von Außenstehenden gestellt wird. Wer immer in nicht-homosexuellen Zusammenhängen: „Ich lese gerne schwule Bücher“ oder „Ich mag lesbische Romane“, gesagt hat, wird sicher die vielleicht vordergründig aufgeschlossene, in Wahrheit jedoch zweifelnde Rückfrage gehört haben: „Lesbische Romane, schwule Bücher – was ist denn das?“ Irgendwie dubios, wahrscheinlich von minderer Qualität, sicherlich etwas mit Erotik, wenn nicht gar etwas mit explizit Pornografischem. Vergleichbare Vorbehalte braucht jemand, der etwa bekundet, sich für jüdische Literatur zu interessieren, sicher nicht gewärtigen, auch wenn auf einen durchaus großen Pool an antisemitischen Motiven zurückgegriffen werden kann.

Das bezweifelnde Infragestellen der Existenz schwuler und lesbischer Literatur als eigenständiger Gattung, ja als Qualitätsmerkmal geschieht auch regelmäßig nicht aus einer harten homophoben Haltung heraus, sondern aus der verkürzenden Ansicht, schwul oder lesbisch zu sein, sei lediglich eine Ausprägung der Sexualität, nicht aber eine lebensbestimmende Identität. Klassischer Ausdruck hierfür ist die Ansage: „Was im Schlafzimmer passiert, ist mir egal, ansonsten will ich damit nicht behelligt werden.“ Dieses Nicht-behelligt-werden-Wollen unterstellt, dass es außer Sexualität nichts zu sagen gäbe – und genau hier liegt der verfehlte Ansatz: Alles in unserem Leben hat mit Schwulsein bzw. Lesbischsein zu tun, und genau das spiegelt sich immer wieder in Literatur. Literatur, die die lesbisch-schwule Buchhandlung sammelt, ordnet, kennt und präsentiert. Diese weiche Homophobie, nämlich Lesben und Schwule vordergründig zu akzeptieren, ihr Leben – und dazu gehören eben auch ihre spezifischen literarischen Interessen – jedoch zu ignorieren, ja als etwas abzutun, was für die Gesamtgesellschaft keinerlei Relevanz hätte, diese weiche Homophobie ist umso gefährlicher, als viele Lesben und Schwulen sie oft als Selbstzensur übernehmen, unterschwellig schwule und lesbische Bücher von „richtiger“ Literatur unterscheiden. Leicht ist zu erkennen, wie vielfältig sich diese Haltung äußert, vor allem aber, wie sie sich immer wieder – selbst bei emanzipierten Lesben und Schwulen und ihren Freundinnen und Freunden – einschleichen und einnisten kann.

So lassen wir uns also nicht von der Frage beirren, was denn ein schwules oder lesbisches Buch sein soll. Wofür wir uns interessieren, was uns fasziniert, worüber wir reden, welche Bücher wir (ver-) kaufen – das sind lesbische und schwule Bücher. Das setzt natürlich für die lesbisch-schwule Buchhandlung voraus, dass sie ein lebendiges Sortiment bietet und mit ihren Kundinnen und Kunden in regem Kontakt steht. Dass sie dies tun will – das ist ihr ureigenstes Interesse, will sie wirtschaftlich überleben; dass sie dies tun kann – das ist ein eigenes Thema, nämlich das des Buchhändlers und der Buchhändlerin als ehrliche Maklerin und ehrlicher Makler.