Paul Senftenberg: Mein Lieblingsfilm

Einer meiner schwulen Lieblingsfilme: Oscar Wilde (1997)
Von Paul Senftenberg

Brian Gilbert: Oscar Wilde

Brian Gilbert: Oscar Wilde

Ein einziges Lieblingsbuch, einen einzigen Lieblingsfilm zu nennen, ob nun schwul oder nicht, ist für mich eine unmögliche Mission – dazu gibt es derer einfach zu viele. Aber dabei befinde ich mich wohl in bester Gesellschaft aller oder zumindest der meisten wahren Freunde von Büchern und Filmen. Über einen Streifen, der mir ganz besonders am Herzen liegt, der mich einfach zutiefst berührt hat, will ich heute schreiben: Oscar Wilde – unter dem Motto »Liebe ohne Namen«.

Auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise befindet sich das von Jacob Epstein gestaltete und einem fliegenden Engel getragene Grab von Oscar Wilde, der sich zu einer Zeit, als Homosexualität noch als Sodomie bezeichnet wurde, schwanken sah zwischen der Liebe zu seiner Frau und seinen beiden Kindern und jener zu Männern, im Speziellen zu dem wesentlich jüngeren Lord Alfred Douglas, den er Bosie nannte. Inmitten der Bigotterie des viktorianischen England stand Wilde zu seiner Neigung und musste dafür teuer bezahlen. Ein Zitat aus Wildes Gedicht »The Ballad of Reading Gaol«, das seine Zeit im Gefängnis thematisiert und auf dem Grab zu lesen ist, nimmt Bezug auf Männer mit einem Doppelleben, wie es der Autor selbst führte: »And alien tears will fill for him/Pity’s long-broken urn/For his mourners will be outcast men/And outcasts always mourn.«
Eine Zeitlang stand die Finanzierung von Brian Gilberts geschmackvoll-eleganter Filmbiografie auf tönernen Füßen, weil damals keiner der Darsteller großen Bekanntheitsgrad besaß. Heute freilich erscheint uns Stephen Fry wie für diese Rolle gemacht: seine Ähnlichkeit mit Wilde, seine Statur, sein flamboyantes Wesen, seine Bereitschaft, in der Verkörperung die eigene Seele freizulegen – unnachahmlich. Und Jude Law ist als Bosie so schön und unwiderstehlich wie nie mehr wieder. »He’s perfect in every way«, sagt Oscar in einer Szene über den eigentlich verzogenen und ziemlich egoistischen Bosie, als dieser ein Lied über die Liebe singt. Kurz darauf kommen die beiden einander näher, sie schmiegen sich aneinander, später betrachtet Oscar seinen jungen Liebhaber, der schlafend auf einem Sofa liegt, wie ein Kunstwerk.
Auf Bosies Frage, ob er ihn denn liebe, antwortet Wilde, dass er sich wie in einer Stadt fühle, die zwanzig Jahre lang belagert worden sei und deren Tore nun plötzlich geöffnet wären. Die Bewohner strömten hinaus: »to breathe the air and walk the fields. To pluck the wild flowers.« Und dann: »I feel relieved.« Die Höhen und Tiefen ihrer Beziehung, ihr teilweise selbstzerstörerisches Treiben, der ständige Wechsel zwischen Kalt und Warm, mit dem Bosie Oscar überschüttet, ohne auch nur einen Gedanken darüber zu verlieren, was er mit dessen Familie und Karriere anrichtet, nimmt zuweilen drastische Ausmaße an. »You don’t interest me when you’re ill!«, herrscht Bosie Oscar an, als dieser fiebert und ihn um ein Glas Wasser bittet. »Dearest of all Boys«, wendet sich Oscar 1892 in einem Brief an den Geliebten, »you must not make scenes with me – (…); I cannot listen to your curved lips saying hideous things to me – don’t do it – you break my heart.« Auf der anderen Seite steht Oscars Unfähigkeit, von Alfred zu lassen. »People have never understood the courage he needs to be himself«, charakterisiert ihn seine Mutter. »It’s about the masks we wear as faces. And the faces we wear as masks«, heißt es an anderer Stelle. Was es bedeutet, mit solchen Masken leben zu müssen, lässt uns die Katastrophe verstehen, in die die Handlung mündet.
Als Lord Alfreds Vater, der Marquess of Queensberry, ihnen den Umgang miteinander untersagt, drängt Bosie Oscar zu einer Klage wegen Verleumdung – und für Oscars gesamtes Umfeld ist von Vornherein offensichtlich, was er selbst nicht sehen will – dass der daraus folgende Gerichtsprozess nämlich nicht gut für ihn ausgehen wird. Im Mai 1895, als der Ausgang des Verfahrens bereits klar ist, schreibt Oscar an Bosie: »As for you, you have given me the beauty of life in the past, and in the future if there is future … Never has anyone in my life been dearer than you, never has any love ben greater, more sacred, more beautiful.« Es kommt, wie es im soziokulturellen Klima dieser Zeit kommen muss: Wilde wird wegen Unzucht zu zwei Jahren Kerkers verurteilt. Kurz vor der Verkündung des Urteils besucht Bosie Oscar im Gefängnis. Ein Gitter ist zwischen ihnen, ihre Finger verschränken sich durch die Löcher miteinander, als wollten sie nie wieder voneinander lassen. Bosie will zu Oscars Gunsten aussagen, doch dieser befürchtet, dass dies alles nur verschlimmern würde. Er, der wesentlich ältere Mann, dagegen Bosie in seiner Jugend und Schönheit – man werde behaupten, er hätte ihn korrumpiert. »It was me who corrupted you!«, zeigt Bosie Einsicht, als es schon zu spät ist.

Was folgt, ist diese wunderbare Szene im Gerichtssaal, in der der Ankläger aus dem Gedicht »Two Loves« zitiert, das Bosie verfasst hat. Es gäbe die eine Liebe, trägt er vor, die die Herzen eines Jungen und eines Mädchens erfülle und sie entflammen lasse. Und dann sei da die zweite: »I am the love that dare not speak its name.« Oscar Wildes Reaktion ist überlegt, beherrscht und sehr ernsthaft, ist ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit und Verständnis füreinander. Von David und Jonathan spricht er, die genannte Art von Liebe betreffend, auch von Plato und den Sonetten von Michelangelo und Shakespeare. Diese Liebe, so Oscar, entwickle sich aus der Beziehung des Intellekts eines älteren Mannes und eines anderen, jüngeren, der all die Freuden und Hoffnungen des Lebens noch vor sich habe. In der Zeit, in der sie lebten, würde sie missverstanden, obwohl es sich dabei um nichts Unnatürliches handle: Die Welt mache sich lustig darüber, nur weil sie sie nicht verstünde.
Doch auch diese Verteidigungsrede vermag Oscar nicht vor seinem persönlichen Schierlingsbecher zu erretten, der Tretmühle des Zuchthauses. »If we could only choose our natures«, schreibt er in einem Brief an seine Frau. »Whatever our natures are, we must fulfil them. Or our lives, my life, would have been filled with dishonesty. Even more dishonesty than there actually was.« In Oscar Wildes Märchen vom selbstsüchtigen Riesen, das er und seine Frau ihren Kindern wie einen roten Faden vorlesen, der durch die Filmhandlung führt, erleidet der Riese im Gefängnis den Tod. Oscar selbst starb zwei Jahre nach seiner Entlassung im Alter von nur 46 Jahren einsam und verarmt in Paris. Sein Grab, das sich unweit von jenen Edith Piafs und Jim Morrisons befindet, ist mittlerweile zum Mekka seiner Anhänger geworden, übersäht mit unzähligen Lippenstiftabdrücken. Welche Botschaften aber viele Bewunderer ihrem Idol auf Papierröllchen im rückseitigen Bereich des Grabmales hinterlassen, kann man nur erahnen. Sie werden wohl nicht selten etwas mit der Zerrissenheit zu tun haben, für die Oscar Wilde wie kein zweiter steht. Und mit dem aufrechten Gang und erhobenen Kopf, mit dem er sich dazu entschloss, diesen Kampf mit sich selbst und seiner Umwelt auszutragen.

Paul Senftenberg ist Autor schwuler Romane, Kurzgeschichten und Essays.
Bisher sind von Paul Senftenberg folgende Bücher erschienen: Damals ist vorbei (Bruno Gmünder 2009, Himmelstürmer 2014), Eine ganz andere Liebe (Himmelstürmer 2013), Narben (Himmelstürmer 2014), Der Stammbaum (Homo Littera 2014) und zuletzt Hände (Homo Littera 2015). Der Text zu dem Film Oscar Wilde ist – leicht abgeändert – dem Buch Gay Movie Moments entnommen. Diese Sammlung von Essays zu Gänsehautmomenten des schwulen Films wird 2016 im Verlag Homo Littera herauskommen.
Infos dazu auf der Homepage des Autors: www.paulsenftenberg.at