Archiv für den Monat: Januar 2014

Erinnern und Erzählen – die Selbstfindung des Bedrängten im kunstvollen Märchen.

Zu Gunther Geltingers Roman »Moor«

Von Veit Schmidt

Gunther Geltinger: Moor

Gunther Geltinger: Moor

Eine romanhafte Märchentheorie: Wie einen Schlüssel stellt Gunther Geltinger seinem Roman »Moor« ein ebenso anmutig-schönes wie gruseliges Märchen voran, das an die zahlreichen kurzen, oft brutalen Märchen in der Grimm’schen Sammlung erinnert, die sich einer niedlichen Hollywood-Verwertung bislang erfolgreich versperrt haben. Der nachfolgende Roman entfaltet und interpretiert auf 440 Seiten nicht nur die Geschichte des vorgeschalteten Märchens, sondern vor allem die Entstehung dieser Geschichte.

Das erste große Kapitel »Herbst« schildert die kindliche Idylle des 13jährigen Dion, der mit seiner Mutter in einem einsamen Haus am Rand eines norddeutschen Moors aufwächst. Sein Vater lebt nicht mehr, er kam bei einem Unfall im Moor ums Leben. Die Mutter versucht sich als Künstlerin, doch keines ihrer Bilder kann sie verkaufen. Dion ist ein Außenseiter, er stottert, wofür er natürlich von seinen Mitschülern gehänselt wird. Für die üblichen Aktivitäten seiner Altersgenossen interessiert er sich wenig, sein Hobby oder vielmehr seine Leidenschaft sind die Libellen des Moors, die dort in zahlreichen Arten leben. Mit Hingabe sammelt Dion die Hüllen der Libellenlarven, bestimmt die einzelnen Arten und vertieft sich in ihre Lebensweise. Seine Mutter unterstützt ihn in seinen Interessen, doch nimmt Dion ihre moderne und aufgeschlossene Art als Vereinnahmung wahr. Mitunter ist Dions Mutter auch sexuell übergriffig, was für den pubertierenden Jungen, der auf der Schwelle seines Coming-outs steht, vor allem Anlass ist, sich noch mehr zurückzuziehen. Weiterlesen