»Ein wenig Leben« von Hanya Yanagihara

»Ein wenig Leben« von Hanya Yanagihara- eine fesselnde schwule Liebesgeschichte

Ein wenig Leben

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben.
Dt. v. Stephan Kleiner.
D 2017, 956 S., geb., € 28.80
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Die Geschichte einer schwulen Liebe: Jude kommt scheinbar ohne Vergangenheit, auf alle Fälle aber ohne Geld und ohne Habseligkeiten im College an, wo er in JB, Malcolm und Willem Freunde fürs Leben findet. Vor allem Willem ist sein treuester Freund, er ist immer für seinen Judy da – und obwohl Willem der einzige echte Hetero der Clique ist, ist für ihn klar, dass seine Zuneigung für Jude etwas ganz besonderes, ja Liebe ist. Alle vier beginnen dann in New York ihre Karrieren, alle in ganz unterschiedlichen Metiers und alle werden über die Maßen erfolgreich. Jude und Willem bleiben enge Freunde, ihre Beziehung bleibt jedoch zunächst platonisch, bis Willem sich immer mehr von Jude angezogen fühlt und ihm gesteht, dass er ihn nicht nur liebt, sondern auch sexuell begehrt. Die beiden werden ein Paar, leben in einer schicken Loft in Downtown New York, bauen auf einem idyllischen Grund in Upstate New York ein kleines Refugium – alles ein Stoff für eine romantische Love-Story. Doch Jude hat Abgründe – und natürlich eine Vergangenheit, auch wenn er nie darüber sprechen will und nur nach und nach Bruchstücke davon Preis gibt. Jude war ein Findelkind und wuchs zunächst in einem Kloster auf, wo er bereits Gewalt und Missbrauch ausgesetzt war; die große Liebe seiner Kindheit war Bruder Luke, der dann auch mit ihm aus dem Kloster flieht und quer durch die USA Jude zur Prostitution zwingt. Doch auch nachdem die Polizei Jude aus diesem Leben befreit, wird Jude bald wieder Opfer sexueller Gewalt, er ist psychisch wie physisch schon als Jugendlicher fürs Leben gezeichnet. Seit Collegezeiten hat Willem Jude dann beschützt – und auch wenn es ihm unendlich schwerfällt, seine Liebe und sein Wille, mit Jude ein Paar zu bilden, stehen niemals in Frage.

Heteronormative Blindheit

Die überwiegende Zahl der Rezensionen beurteilt Hanya Yanagiharas Roman »Ein wenig Leben« positiv und arbeitet zur Begründung die vom Verlag vorgegebenen vermeintlich zentralen Inhalte ab: Die Geschichte der lebenslangen Freundschaft von vier Männern; das Ausloten des Spektrums von Beziehung, Liebe und Partnerschaft; die epische Darstellung eines Lebens, das von ständigen, unerträglichen körperlichen Schmerzen und einer unfassbaren, traumatischen Kindheit geprägt ist. Einig sind sich darüber hinaus die meisten Besprechungen in einer gewissen Ratlosigkeit, warum das erstens in dieser Länge (in der deutschen Übersetzung fast 1000 Seiten) und zweitens als schwule Beziehungsgeschichte geschehen musste. Während freilich auf den Romanumfang noch kritisch hingewiesen wird, bleibt der schwule Charakter des Buches unerwähnt, er wird verschwiemelt bloß angedeutet oder als Nebenaspekt heruntergespielt. Dass es sich aber um einen der ganz großen, epischen Romane über schwules Leben handelt, hängt unmittelbar mit der eigentlichen literarischen Größe von »Ein wenig Leben« zusammen.

Deutungsoffenheit

Zunächst einmal muss man zur erzählerischen Kraft der Autorin festhalten, dass sie es schafft, in einer solchen Länge eine Geschichte zu erzählen, die beim Lesen fesselt, die man erfahren will und zwar bis ins Detail und bis ans Ende – und dabei bis in den Schlusssatz offen zu halten, was eigentlich erzählt wird: Eine Lebensgeschichte? Ein Tagtraum? Ein Schlüsselroman über eine fiktive Person des öffentlichen Lebens? Eine moderne Form einer Heiligenlegende? Ich halte die Unmöglichkeit, letztgültig zu bestimmen, was der Roman eigentlich beschreibt, für eines der wichtigsten Qualitätsmerkmale, denn er ermöglicht, ja erfordert die produktive Leistung von Leserin und Leser, eine schlüssige Interpretation zu finden, ohne abschließende Gewissheiten finden zu lassen. Entscheidend für diesen Effekt sind vor allem die stilistischen Mittel des Romans, die einerseits in großer Fülle, andererseits in konsequenter Ausarbeitung angewandt wurden, dass ein Versuch, den Roman zu verstehen nicht ohne Verlust daran vorbei schlittern kann.

Zeit und Wirklichkeit

Ein wenig LebenNatürlich kann man als einfachstes Raster an »Ein wenig Leben« eine Zeitachse anlegen; doch ist eine exakte Datierung unmöglich, es fehlt nicht nur jeder historische Hinweis (immer wieder wird die Ahistorizität des Romans mit dem völligen Fehlen jeden Hinweises auf die Attentate des 9. September 2001 angeführt), es gibt auch sonst nicht ein datierbares Ereignis, ein technisches Gerät oder dergleichen, das einen zeitlichen Anker zu werfen erlaubte. Indirekt lässt sich der Roman, wenn man seine Handlung denn datieren will, jedoch schon grob zeitlich einordnen. Am Roman-Ende sind die vier Freunde in ihren Fünfzigern. In ihrer College-Zeit verhandeln sie ihr Lebensgefühl als »post«, ja eher noch »post post« und JB, einer der vier, scheut nicht davor zurück, dieses »post« auf eine biologische Realie wie die Hautfarbe zu beziehen, wenn auch zum Spott seiner Freunde. Später gibt es noch einen Freund, der etwa eine Generation älter ist und für den es – im Unterschied zu den vier Freunden – gerade deswegen noch wichtig ist, sich identifikatorisch als gegeben schwul zu beschreiben, während sexuelle Identität und Orientierung für die vier Freunde eher einer von vielen eher wabernden Räumen der Möglichkeiten sind. Die Vier müssen also etwa um 1980 geboren sein, die Romanhandlung endet folglich zwischen 2030 und 2040.

Ginge es freilich ausschließlich um die erzählte Biografie der Hauptfigur Jude, die Lebens- und Leidensgeschichte eines Hochbegabten mit entsetzlicher Kindheit, wäre die Darstellung seines Lebens in der Zukunft auch für die Leserschaft einer höheren Romanauflage völlig unnötig und unerklärlich. Jedoch unterstreicht die Autorin noch diesen utopischen Aspekt ihrer Erzählung durch den ebenso konsequenten wie unberechenbaren Wechsel der Zeiten: Grundsätzlich ist der gesamte Roman in der Vergangenheit erzählt. Immer wieder springt das Tempus jedoch ins historische Präsens, nimmt im Futur Dinge vorweg oder bezieht sich in der Vorvergangenheit auf Rückliegendes. Durch diesen ständigen Wechsel wird ein merkwürdig surrealer Schwebezustand erzeugt, ein Gefühl erzeugt, die Zeit – und das heißt vor allem: die datierbare Zeit – entgleitet. Dabei entstehen auch Zeitblasen, nämlich Jahre, die merkwürdig wie ausgelöscht wirken, Sekunden, die sich zu gefühlten Stunden aufblähen.

Zeit und Wirklichkeit sind also zumindest problematische Möglichkeiten, ein Raster zur Erfassung von »Ein wenig Leben« zu finden, was umso schärfer hervortritt, weil die räumlichen Verhältnisse nachgerade minutiös detailgenau beschrieben werden. Spaziergänge durch New York, Lage und Aussicht beschriebener Wohnungen lassen sich exakt nachvollziehen, Grundrisse und Einrichtung von Wohnungen könnten vermutlich zentimetergenau rekonstruiert werden. Doch Kontraste sind ein Grundelement des Romans, mit denen uns die Autorin ebenso gut unterhält wie sie uns tückisch in die Irre führt. Deutlich wird dies auch beim Blick auf die kompositorische Anlage des Buchs.

Aufbau und literarischer Bruch

»Ein wenig Leben« wird regelmäßig als Geschichte von vier Freunden dargestellt. Und in der Tat, die ersten gut hundert Seiten ist es auch nichts anderes als die Geschichte von vier Jungs, frisch vom College, die sich mehr oder weniger schwer tun, beruflich Fuß zu fassen und die bis auf Malcolm, der aus reichem Elternhaus stammt, alle unter chronischem Geldmangel leiden. In dieser Roman-Ouvertüre verstrickt die Autorin Leserin und Leser durch einen raffinierten Erzählstil: Zwar ist die Erzähl-Haltung auktorial aus der Perspektive der allwissenden Erzählerin und die Sprache durchaus konventionell, es steht jedoch immer einer der vier Freunde im Zentrum; aus dessen Perspektive beschreibt Hanya Yanagihara. Die Raffinesse besteht nun darin, dass erst nach einigen Seiten klar wird, aus wessen Perspektive denn nach einem Abschnittswechsel erzählt wird, und zwar nur dadurch, dass die restlichen drei als perspektivisch Beobachtete ausscheiden. Die Hauptperspektive erschließt sich also erst nach und nach im Ausschlussverfahren. Dieser Erzähltrick verlangt beim Lesen erhöhte Konzentration, weil gerade in den Passagen, in denen noch nicht eindeutig ist, wessen Perspektive gerade eingenommen wird, Entscheidendes über Gemüts- und Charaktereigenschaften der jeweiligen Hauptfigur mitgeteilt wird – Eigenschaften, die Leserin und Leser sammeln und erst nach einigen Seiten einem der vier eindeutig zuordnen kann. Dass es dabei um Alltagserlebnisse, Wohnungssuche, gemeinsame Essen und Partys geht, verstärkt die Erwartung, dass es ein Milieu-Roman sein wird, der gekonnt in eine Erzählung verpackt ist, die nach detektivischer Entschlüsselung die Realität wenn nicht des Großstadtlebens überhaupt, so doch mindestens einiger sympathischer ihrer Bewohner enthüllt.

Nur gut hundert Seiten wird diese Erwartung bedient, nach der Schilderung einer Silvester-Nacht, in der die vier sich auf dem Dach des Hauses, in dem Willem und Jude in einer gemeinsamen Wohnung leben, in Eiseskälte ausgesperrt haben und Jude und Willem in einer abenteuerlichen Aktion über die Feuerleiter in ihre Wohnung eingestiegen sind und JB und Malcolm wieder herein lassen können, kippt die Erzählung. Aus allen vieren werden Erfolgsmenschen ihres jeweiligen Metiers, erzählt wird freilich fast nur noch von Jude, alle anderen tauchen nur noch gelegentlich auf, einzig Willem, mit dem Jude schließlich eine schwule Beziehung führt, wird noch einigermaßen plastisch beschrieben. Viele Besprechungen beklagen, dass dieser »Rest« des Romans (wobei dieser so genannte Rest mehr als vier Fünftel einnimmt) nicht einlöse, was der Anfang verspreche. Dabei ist es ja gerade das Spannende, was dieser Hauptteil des Romans eigentlich ist, weniger was erzählt wird, sondern wie, warum und von wem es erzählt oder gedacht wird. Bezeichnender Weise wird hier (und nur hier) nicht nur Judes Vergangenheit enthüllt, in allen grauenvollen Details, wo doch Jude immer bemüht ist, dass niemand auch nur irgendetwas davon erfährt. Und auch die Erzählführung in diesem großen Teil, der irgendwann nach der genannten Silvesternacht einsetzt und die gloriose Zukunft der vier schildert, ist eine völlig andere. Die Perspektivwechsel sind viel klarer, es kommen aber Ich-Perspektiven hinzu, mal ein briefliches, mal ein eher testamentarisches Ich. Der Bruch ist also konsequent und auf allen Ebenen vollzogen: inhaltlich wie stilistisch.

Bezeichnend ist, wie dieser zweite und dominante Teil endet, nämlich mit der Ankündigung, die Geschichte zu erzählen, wie Jude und Willem in ihre eigene Wohnung einsteigen. Erzählerisch ist also der zweite Teil eine Schleife, die genau dort endet, wo sie einsetzte: beim literarischen Bruch der Erzählung in der Silvesternacht, als Jude und Willem sich nach dem glücklichen Ausgang ihres Abenteuers ganz nah sind und für kurze Zeit die Welt um sich vergessen. Ob Hanya Yanagihara Kleist gelesen oder auf der Bühne gesehen hat, mag sein oder nicht: Dass Jude und Willem eine moderne Form von Käthchen und Friedrich Wetter sein könnten, Jude ebenso zerschmettert wie Käthchen nach ihrem Fenstersturz, Willem ebenso zögerlich in seinem Verhältnis zu Jude wie Friedrich gegenüber Käthchen sind nur die äußerlichsten Anhaltspunkte dafür, dass es hier um eine Vision, einen Traum, eine Erscheinung in der Silvesternacht gehen könnte, dass das, was nur mühsam auf eine Zeitachse zu projizieren und mit Wahrscheinlichkeit in Einklang zu bringen ist, nichts anderes ist, als Judes fiebrige Sehnsucht und weltvergessener Sekundentraum – durchlebt im Gefühl intimer Nähe zu dem Mann, den er ersehnt, den er aber nicht erreichen kann, weil dieser hetero ist. Übrigens hat auch die Autorin das Verfassen von »Ein wenig Leben« als einzigen großen Fiebertraum beschrieben.

Schwule Sehnsucht, opernhafte Dramatik, Camp und Kitsch

Den schwulen Fokus von »Ein wenig Leben« aus dem Blick zu verlieren, kann nur zu Verstellungen führen, denn durch die formale Gestaltung des Romans ins Zentrum gerückt, erweist sich sowohl die sensationelle Erfolgsgeschichte des Anwalts als auch die entsetzliche Kindheits- und Jugenddarstellung des Findelkinds und zur Prostitution genötigten Missbrauchsopfers in ihrer sich fast schon hysterisch anstachelnden wechselseitigen Überhöhung als inszenatorische Gemeinplätze der Selbstdarstellung eines Außenseiters. Dass Jude nicht nur über die Maßen beruflich erfolgreich sein soll, sondern auch noch mit weiteren Extrem-Begabungen gesegnet sein soll, wird regelmäßig als maßlos und unglaubhaft erkannt – und zumeist als wenn auch lässlicher Negativ-Aspekt des Romans bewertet. Anders zumeist bei der Missbrauchs- und Prostitutions-Vergangenheit, die nicht minder eine sich ins immer noch grauenvollere steigernde Kaskade des Schreckens ist, die zwar nicht weniger unwahrscheinlich ist, freilich eher betreten als gegeben hinzunehmen behandelt wird.

Doch opernhafte Überhöhung, das glanzvolle Sich-Erheben aus dem Staub, wie Phönix aus der Asche zu steigen, bilden einen Kernbestand schwuler Selbstinszenierung und haben eine lange Tradition. Insofern dient das Übertreiben beider Seiten der Steigerung des Gegensatzes, der Glanz des Erreichten strahlt umso heller, je tiefer der Abgrund reicht, aus dem das Licht aufsteigt. Das hat nichts mit Lügenmärchen oder Alles-halb-so-Schlimm zu tun, es ist Ausdruck der existenziellen Dramatik des regelmäßig erwartbaren Scheiterns schwulen Begehrens, das sich immer wieder auf den unerreichbaren Hetero richtet. Jude darf sich auf seinen Willem nämlich keinerlei Hoffnungen machen, denn er ist durch und durch heterosexuell, ihm fliegen die Mädchen zu und er nimmt sie sich auch gerne. Gerade weil er ihn liebt, darf Jude Willem auch nicht »umdrehen«, sondern es muss Willem sein, von dem dann doch die Initiative ausgeht, der gegen alle Wahrscheinlichkeit und Hoffnung, sich ihm zuwendet. Das ist nicht, wie immer wieder behauptet wird, der melodramatische Zug von »Ein wenig Leben«. Das ist zu Camp übersteigerter Kitsch, ein wenn nicht das zentrale Element schwuler Kultur.

Doch können diese Beobachtungen nur der Anfang dafür sein, über die vielen Implikationen dieses Romans nachzudenken, denn gerade als schwuler Roman rührt er an den Grund des Menschlichen und enthüllt allgemeine Wahrheiten die Wege der menschlichen Fantasie, über die es lohnt, lange und intensiv zu diskutieren.

Video auf Youtube zu dieser Interpretation des Romans

(Von Veit Georg Schmidt, Buchhandlung Löwenherz)