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Arnon Grünberg: Der jüdische Messias

Arnon Grünberg: Der jüdische Messias

Dt. v. Rainer Kersten. CH 2014, 637 S., Pb, € 13.26
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Diogenes
Inhalt
2004 erschien »De joodse messias« in den Niederlanden. Beim Schweizer Verlag Diogenes, bei dem bisher alle Übersetzungen des niederländischen Autors erschienen sind, ließ man sich mit diesem Buch sichtlich Zeit. Wenn man sich anschaut, mit welch heiklen Materien - quasi starkem Tobak - der Autor hier operiert, ist das nur zu verständlich: es geht um Hitler, »Mein Kampf«, eine unbewältigte Vergangenheit, das große Schweigen, die Schuld und die Schmerzen, den gegenwärtigen, rationalisierten Antisemitismus, andere Rassismen, den israelisch-palästinensischen Konflikt, Vorurteile, Missverständnisse, Gewalt, Homophobie, Wahnsinn, Extremismus, Fundamentalismus, die Beschneidungsdebatte, politische Unkorrektheit, Messianismus und die Atombombe - mitten drin auch eine süß beginnende Liebesbeziehung zwischen zwei Jungen - insgesamt also eine Gemengelage an Themen, die voller Untiefen und Fettnäpfchen ist. Jedes angeschnittene Thema für sich birgt die Möglichkeit eines Eklats. Nur eine falsche Nuance, eine missverständliche Phrase - und schon könnte das Ganze nach hinten losgehen. Man hätte ungewollt einen Skandal am Hals. Den hat der Verlag wohl gefürchtet. Leider bin ich des Niederländischen nicht mächtig. Insofern kann ich nicht entscheiden, ob das Vermeiden von Fettnäpfchen einer sicherlich großartigen, sensibel austachierten Übersetzung zuzuschreiben ist oder schon vom niederländischen Original herrührt (ich persönlich glaube an Letzteres). Aber so viel ist sicher: Grünberg erspart dem Leser nichts - die Dinge, die es alle in unserer Realität gibt, kommen hier ungeschönt, wenn auch durch die handelnden Figuren rationalisiert vor. Er macht keinen Bogen darum herum. Die unschönen Realitäten unserer heutigen Welt prallen hier voll auf den Leser ein. Manchmal muss man richtig schlucken. Manchmal muss man auch herzhaft auflachen, während einem im nächsten Moment das Lachen im Hals stecken zu bleiben droht: ist das, worüber man sich gerade noch so amüsiert hat, denn noch politisch korrekt? Worum geht es in »Der jüdische Messias«, das solches Fingerspitzengefühl erforderlich macht? Der 16jährige Basler Junge Xavier Radek kommt aus einer gut situierten, faden Familie, in der wenig geredet wird. Der Vater ist Architekt, die Mutter Hausfrau - immer um den schönen Schein in der Stadt bemüht. In Wirklichkeit ist die Liebe zwischen Xaviers Eltern längst erloschen. Sie reden nicht mehr (viel) miteinander und auch nur wenig mit dem umtriebigen, etwas sensiblen Jungen. Dieser ist alleingelassen in seiner Welt, hängt seinen wilden Ideen nach, die sich immer mehr zu einer Verschrobenheit verfestigen. Auf der Suche nach einem Sinn im Leben stößt Xavier beim Wühlen in der Familienvergangenheit nicht nur auf ein Exemplar des verbotenen Buches von Du-weißt-schon-wem - »Mein Kampf« - nein, er erfährt, wie sein Großvater mütterlicherseits am Ende des 2. Weltkriegs ums Leben kam - als SS-Angehöriger, der viele Juden auf dem Gewissen hat. Aus diesem dunklen Fleck der Familienhistorie leitet Xavier seinen Sinn des Lebens ab - er glaubt nun eine Mission zu haben - er will im Rahmen seiner Möglichkeiten die an den Juden begangenen, schlimmen Verbrechen wieder gut machen - er will sie trösten. Nicht nur das - er will sogar selbst Jude werden, gibt sich zunächst als assimilierter Jude aus, dessen Eltern so überangepasst wären, dass sie ihn nicht einmal beschneiden haben lassen, wie es die Tradition von Juden eigentlich verlangen würde. Er geht mit einer zionistischen Jugendgruppe schwimmen und wendet sich an den Rabbi von Basel, dessen ältester Sohn Awrommele auf Anhieb Xaviers Sympathien gewinnt. Awrommele wird von Xavier als erstes und vordringliches Objekt seiner Tröstungsversuche auserkoren. Währenddessen erhält er Jiddischunterricht von Awrommele - und irgendwann kommt die Sprache auf »Mein Kampf« von Du-weißt-schon-wem. Die beiden fassen den irrwitzigen Plan, das verbotene Buch ins Jiddische zu übersetzen. Das Judentum sei ja nun so weit, das verkraften zu können - und es müsste doch ein Bestseller werden. Ein Verleger ist schnell gefunden. Dann kommt Awrommele darauf, dass Xavier nicht beschnitten ist - ein unhaltbarer Zustand für einen Juden (egal ob assimiliert oder nicht). Weil er findet, dass eine Beschneidung im Krankenhaus für einen Erwachsenen viel zu teuer kommen würde, fällt ihm der alte Herr Schwartz ein, der zwar lange keine Beschneidungen mehr durchgeführt hat, aber dafür billig ist. Das Beschneiden würde man eh nicht verlernen - wie Radfahren. Also wird ein Beschneidungstermin fixiert. Doch Herr Schwartz ist alt, und auf einem Auge sieht er nicht mehr gut. Die Beschneidung geht furchtbar schief. Xavier verliert nicht nur seine Vorhaut durch den Eingriff, sondern auch einen Hoden durch eine Infektion - den darf er in einem Glas aufbewahrt mit nach Hause nehmen. Er gibt dem Hoden den Namen »König David« - und im Laufe der Handlung kommt die Vermutung auf, dass der Hoden der jüdische Messias sein könnte. Xaviers verpfuschte Beschneidung schlägt in Basel hohe Wellen - plötzlich gerät der alte Herr Schwartz ins Visier von Kinderschützern und Polizei. Die Medien titeln mit reißerischen Geschichten. Man vermutet in Herrn Schwartz den Pädo-Lenin - Lenin, weil er glühender Kommunist ist, und pädo, weil er sich anscheinend an Kindern vergeht. Die jüdische Gemeinde distanziert sich von ihm. Und Xaviers Versuche, die Sache zurechtzurücken, führen zu nichts. Herr Schwartz ist das erste Opfer, das auf Xaviers Weg zu seinem ganz besonderen Schicksal ins Unglück stürzt. Bald nach der Festnahme begeht er im Gefängnis Selbstmord. Durch die Ereignisse wird das Verhältnis von Xavier und Awrommele immer enger und immer seltsamer. Sie lieben sich - schwören aber keine Gefühle füreinander zu haben. Awrommele hat auch laufend Affären mit anderen Männern, was er damit erklärt, dass er nicht nein sagen kann. Das treibt Xavier regelmäßig in die Eifersucht und auch zum Ausrasten. Dabei sind sie füreinander geschaffen und führen eine »ihrer Veranlagung« gemäße Beziehung, die sich als sehr beständig erweist und auch Krisen übersteht. Als die beiden Sex in einem Waldstück haben, geraten sie in die Fänge von jungen Männern, die das Liebesspiel beobachtet haben. Xavier wird ein Auge blau geschlagen, kann aber noch entfliehen, bevor Schlimmeres passiert - nur Awrommele hat das Pech, nun den Brutalos, die auf intellektuell tun und Kierkegaard verehren, ausgeliefert zu sein. Sie schlagen ihn krankenhausreif und lassen ihn liegen. Das schlechte Gewissen treibt Xavier an die Stelle des Übergriffs zurück - er findet dort seinen Geliebten im eigenen Blut liegen. Mit Mühen gelingt es ihm den Schwerverletzten ins Krankenhaus zu transportieren. Dort sind die Eltern ganz wahnsinnig vor Sorge um ihren Ältesten. Aber die beiden jungen Männer sind nicht mehr in Basel zu halten. Überhaupt haben sie kühne Pläne. Denn Xavier - der mit dem Malen begonnen hat (vornehmlich seine Mutter zusammen mit seinem abgetrennten Hoden auf dem Schoß dient ihm als Modell) - möchte, dass Awrommele ihm ins Venedig des Nordens - Amsterdam - folgt. Dort möchte der selbst ernannte Tröster der Juden Kunst studieren. Awrommeles Coming-out vor den Eltern führt zu einer überstürzten Abreise aus Basel. Die Mutter sieht Unheil heraufziehen, kann sich aber gegen den eigenwilligen Jungen nicht durchsetzen. Noch dazu wird er in seinem Bestreben, etwas aus seiner Kunst zu machen, vom Freund seiner Mutter unterstützt. Der ist seit langem gar nicht so heimlich in den Jungen verliebt und ist froh, ihn auf der Fahrt nach Amsterdam noch ein wenig um sich zu haben. In Amsterdam fällt das Urteil der Kunstakademie über Xaviers Malerei wenig schmeichelhaft aus: er solle doch besser einen Blumenladen aufmachen - diese Kränkung steckt der Junge mit der Verbissenheit eines Eiferers weg. Und dann - weil Awrommele ständig mit anderen Männern herummacht - wächst Xaviers Plan heran: er will mit seinem Geliebten ins Heilige Land gehen - denn nur Awrommele allein zu trösten, ist ihm zu wenig. Kaum dort angekommen entdeckt Xavier sein Talent als Politiker. Mit politischem Geschick und einigem Nachhelfen steigt er zum Ministerpräsidenten Israels auf, der dem Land zu neuen Allianzen und einem Bündnis mit den Palästinensern verhilft. Am Ende ist der Atomkrieg nicht mehr abwendbar. In Form eines Pelikans kommt der jüdische Messias bis nach Basel. »Der jüdische Messias« ist eine Groteske. Doch bei all dem Absurden, das diese Romanhandlung zu bieten hat, ist es erstaunlich, wie gelungen plausibel der Autor selbst die krassesten Entwicklungen herzuleiten versteht. Ein Teil seiner Erzählkunst ist darin begründet, dass alle Figuren - selbst Nebenfiguren - mit kleinen, aber facettenreichen Strichen gezeichnet sind. Sie haben Hand und Fuß, können überzeugen. Xaviers Mutter, Herr Schwartz, die kleine Danica, der ägyptische Restaurantbesitzer Nino und der Hamasführer zählen zu den besonderen Highlights. Facettenreich ist überhaupt eine gute Beschreibung dieses Romans. Die vielen Nebenstränge der Handlung sind mit viel Liebe zur Nuanciertheit ausgeführt, laufen lange unverbunden nebeneinander her, um dann immer wieder genial zusammengeführt zu werden. Diese Zusammenführungen der Handlungsstränge zählen jeweils zu den Höhepunkten von »Der jüdische Messias«. Dieses Buch ist ein echtes Juwel. Selten in letzter Zeit habe ich die Lektüre eines Buches derart genossen. Und ließe mir mein Beruf die Zeit, würde ich es bestimmt gern ein zweites Mal lesen. Diese Zeit wird kommen ... Gleichzeitig ist »Der jüdische Messias« ein politisches Buch. Wie entsteht Extremismus, Fanatismus? Wie kann er im Menschen schlummern? Wie ansteckend ist er? Wunderbar hergeleitet ist das am Beispiel der Jungen Xavier, der sich aus einem eigenwilligen, lebendigen Burschen mit seltsam verdrehten Ideen immer mehr in einen politischen Eiferer, einen Radikalen und Extremisten verwandelt. Irgendwann hat er sich so in seine Ideen, Vorstellungen verrannt, dass es ihm nichts mehr ausmacht, wenn die ganze Welt in Flammen aufgeht - und dann wären wir bei Hitler, dem Du-weißt-schon-wen, und seinem Buch »Mein Kampf«. Auch wenn das Buch im letzten Drittel enorm an Fahrt aufnimmt, wirkt es niemals blöd, schwachsinnig oder an den Haaren herbeigezogen - es hat alles Konsequenz. Und das macht wohl eine gute Groteske aus.
Jürgen empfiehlt - Herbst 2013
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