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Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben

Dt. v. Stephan Kleiner. D 2018, 958 S., Pb, € 18.50
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Inhalt
Die Geschichte einer schwulen Liebe: Jude kommt scheinbar ohne Vergangenheit, auf alle Fälle aber ohne Geld und ohne Habseligkeiten im College an, wo er in JB, Malcolm und Willem Freunde fürs Leben findet. Vor allem Willem ist sein treuester Freund, er ist immer für seinen Judy da - und obwohl Willem der einzige echte Hetero der Clique ist, ist für ihn klar, dass seine Zuneigung für Jude etwas ganz besonderes, ja Liebe ist. Alle vier beginnen dann in New York ihre Karrieren, alle in ganz unterschiedlichen Metiers und alle werden über die Maßen erfolgreich. Jude und Willem bleiben enge Freunde, ihre Beziehung bleibt jedoch zunächst platonisch, bis Willem sich immer mehr von Jude angezogen fühlt und ihm gesteht, dass er ihn nicht nur liebt, sondern auch sexuell begehrt. Die beiden werden ein Paar, leben in einem schicken Loft in Downtown New York, bauen auf einem idyllischen Grund in Upstate New York ein kleines Refugium - alles ein Stoff für eine romantische Love-Story. Doch Jude hat Abgründe - und natürlich eine Vergangenheit, auch wenn er nie darüber sprechen will und nur nach und nach Bruchstücke davon Preis gibt. Jude war ein Findelkind und wuchs zunächst in einem Kloster auf, wo er bereits Gewalt und Missbrauch ausgesetzt war; die große Liebe seiner Kindheit war Bruder Luke, der dann auch mit ihm aus dem Kloster flieht und quer durch die USA Jude zur Prostitution zwingt. Doch auch nachdem die Polizei Jude aus diesem Leben befreit, wird Jude bald wieder Opfer sexueller Gewalt, er ist psychisch wie physisch schon als Jugendlicher fürs Leben gezeichnet. Seit Collegezeiten hat Willem Jude beschützt - und auch wenn es ihm unendlich schwerfällt, seine Liebe und sein Wille, mit Jude ein Paar zu bilden, steht niemals in Frage. Schon die Entfaltung dieses extremen Gegensatzes zwischen Liebes- und Problemgeschichte, die Darstellung von Freundschaft, Liebe, Beziehungen und Familienformen, der Reichtum an Episoden, Wandlungen der Figuren, kurz die blanke Geschichte würden den Roman schon zu einer lohnenden Lektüre machen. Doch der eigentliche, großartige Wert des Romans liegt in seiner Form, in seinen Erzählstilen und -haltungen und in seiner Vieldeutigkeit: Was für eine Geschichte wird da eigentlich erzählt? Denn bezeichnender Weise gibt es fast keine Datierungshinweise, nur aus ganz wenigen Andeutungen wird klar, dass der Roman entweder im wahrsten Sinn vollkommen zeitlos, also in Wahrheit eine Momentaufnahme ist - oder aber, in eine realistische Jahresabfolge projiziert, in der Zukunft enden muss. Und auch die Erzählhaltungen sind alles andere als eindeutig: Weite Teile des Romans sind klassisch auktorial aus der Perspektive der allwissenden Erzählerin geschrieben - und das in großer Kunstfertigkeit, denn immer ist einer der vier Freunde die Hauptfigur, doch welche, das erschließt sich erst beim Lesen durch den Blick auf die jeweils anderen; Teile des Romans sind hingegen in Ich-Perspektive gehalten, zum Teil als briefliches, zum Teil als testamentarisches Ich. Welche dieser Perspektiven freilich alles bündelt, entzieht sich der letztgültigen Gewissheit. In der kunstvollen Schwebe eines Tagtraums hält den Roman auch der beständige Wechsel der Zeitform: Der größte Teil ist als Bericht in der Vergangenheit gehalten; immer wieder springt die Erzählung jedoch in ein historisches Präsens, in die Vorvergangenheit und in die Zukunft. Und so könnte es sein, dass die packende Geschichte womöglich bloß der Traum Judes ist, der gerade mit seinem Willem über die Feuerleiter in die gemeinsame Wohnung eingestiegen ist, aus der sie sich ausgesperrt hatten. Doch liegt ja das Besondere von »Ein wenig Leben« gerade darin, dass eine Lösung nicht in Sicht ist, dass nach der Lektüre noch genauso lang darüber nachgedacht werden kann, was man da gerade gelesen hat, wie man für die 950 Seiten gebraucht hat. Ein Buch für alle, die in Geschichten schwelgen, die sich gerne durch kunstvolles Erzählen ent- und verführen lassen und die standfest genug sind, auch mit unauflöslicher Unsicherheit glücklich zu sein.
Veit empfiehlt (Frühling 2017)

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