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Katja Behrens: Nachts, wenn Schatten aus dunklen Ecken kommen

Katja Behrens: Nachts, wenn Schatten aus dunklen Ecken kommen

Ein Roma-Leben zwischen Tradition und Aufbruch. D 2016, 160 S., geb., € 24.70
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Edition Faust
Inhalt
Die Autorin hatte Nono - den Spross einer serbischen Roma-Familie - bei einer Geburtstagsfeier kennengelernt. Sie fasste den Plan, seine spannende und ungewöhnliche Lebensgeschichte niederzuschreiben - wohl wissend, dass manche der Ausführungen imstande sein würden, weit verbreitete Vorurteile zu bestätigen: »Nimm die Wäsche von der Leine, die Zigeuner kommen.«Aber sie hat es trotzdem getan - gut so. Denn diese Lebensgeschichte ist spannend und zudem fesselnd geschrieben. Mir hat der knappe, präzise Schreibstil der Autorin sehr gefallen.
Zudem verdeutlicht der Roman, wie Roma zu dem gemacht werden, wie sie häufig - fast überall - aufgefasst werden. Es ist nicht so, dass sie nicht gerne an einem schönen Ort würden sesshaft werden wollen. Doch man will sie nicht haben, weil es angeblich stets Schwierigkeiten mit ihnen gäbe; man bezichtigt sie (begründet oder nicht) des Diebstahls, des Betrugs, der Körperverletzung, beschimpft sie und verjagt sie immer wieder. Sie sind nie Teil einer Gesellschaft, sondern immer die verhassten Außenseiter, die maximal geduldet, aber eigentlich nicht gern gesehen werden. Oft sind sie auf der Flucht. Das Nicht-Sess­hafte geht ihnen in Fleisch und Blut über. Und doch schimmert immer wieder die Hoffnung auf eine fixe Anstellung, gesellschaftlichen Aufstieg, eine feste Bleibe durch. Man lässt sie einfach nicht.
Die Gewalterfahrungen von Vertreibung, brennenden Häusern und Pöbeleien in der Schule machen Roma schon von klein auf. Es sind traumatisierende Erlebnisse, die wiederum die Gemeinschaft mit ihren eigenwilligen, harten Traditionen mehr zusammenschweißen, aber auch isolieren. Auch Nono weiß davon zu berichten. Seine Familie - ursprünglich aus Jugoslawien kommend - wurde von einem Bürgermeister in Darmstadt ansässig gemacht. Es ist ein Versuch, der bei den anderen Bewohnern der Stadt auf Skepsis und Vorurteile stößt. Nono kommt an eine Schule. Auch wenn er dort einen schweren Stand hat, wird er seine schulische Ausbildung abschließen können. Als erster in seiner Familie kann er ausreichend deutsch lesen und schreiben. Und dadurch kann er zwischen den Seinen und Behörden oder im Krankenhaus vermitteln, wenn es etwas zu klären gibt - und das kommt laufend vor. Auch wenn das Leben der Großfamilie in dem Haus keine Idylle ist, wäre es eine ausreichend gute Option, um sich dort niederzulassen. Doch so leicht lassen sich Vorurteile nicht überwinden. Es kommt zu Übergriffen. Das Haus von Nonos Familie brennt ab. Brandstiftung. Ein Wunder, dass niemand zu schaden kommt. Wieder ist Nonos Familie auf Reisen - das sog. fahrende Volk eben.
Und Nono ist gerade 14, da wird auch schon über seinen Kopf hinweg seine Verheiratung arrangiert. Nicht, dass er sich eine Frau aussuchen dürfte, die er liebt - es geht um Familienpolitik, eine gute Partie, die eine hohe Mitgift rechtfertigt. Nono hat kein Mitspracherecht. Ihm wird eine Braut vorgesetzt - friss oder stirb! Auch seiner Zukünftigen geht es nicht anders. Keiner von beiden wagt zu widersprechen, sich über uralte Traditionen und die Wünsche der Familie hinwegzusetzen. Dabei hat Nono längst gemerkt, dass er anders ist. Aber er gehorcht und lässt sich verheiraten. In der Hochzeitsnacht lauert die Familie auf den Moment, dass ihr ein blutiger Unterrock von der Entjungferung der Braut gereicht wird. Um der Familie zu gefallen und sich als »richtiger Zigeuner« zu beweisen, spielt Nono die Rolle, die von ihm erwartet wird. Zunächst. Dabei faszinieren ihn Männer viel mehr. Er schafft es bis 18, zwei Kinder in die Welt zu setzen. Doch nachts schleicht er sich heimlich in die schwule Szene. Dort trifft er niemanden von seiner Sippe oder Verwandte, die ihn erkennen können. Dort ist er unter Deutschen. Dort kommt er gut an, denn er ist jung und schön - ein bisschen exotisch. Neben seiner Hetero-Ehe führt er eine schwule Beziehung, ohne dass es auffällt. Die Heimlichkeit ist ihm wichtig - er weiß nicht, wie er als schwuler Rom weiterhin Teil seiner Familie sein könnte. Es gibt Beispiele in seiner Familie, was Verstoßenen, Leuten, die »Baledschido« sind, passiert. Durch die Zerstreuung der Roma-Familien über ganz Europa verbreitet sich die Kunde vom Ausgestoßensein einer Person in Windeseile. Nirgendwo kann so jemand Aufnahme erhoffen. Nicht einmal die engsten Familienmitglieder dürfen eigentlich Kontakt halten, weil sie sonst auch als unrein gelten und ihnen ebenfalls die Verstoßung droht. Wenn es doch passiert, dann in gänzlicher Heimlichkeit. Doch lange geht das Doppelleben, das Nono führt, nicht gut. Ein deutscher Boyfriend forciert eine Entscheidung und outet Nono vor seiner Familie. Nachdem sein Vater nicht an die Homosexualität des Sohnes glauben will, wird Nono zum Arzt geschickt, um ihn zu »heilen«. Auch versucht er sich »zusammenzureißen«. Doch auch das führt nicht zum erhofften Ziel. Irgendwann kracht es mit dem Vater. Es kommt zum Konflikt, den die beiden vor der Familie austragen. Das Familiendrama ist perfekt, und Nono wird aus der Familie ausgestoßen; darf eigentlich nicht einmal Kontakt zu seinen beiden Kindern haben. Die beiden setzen sich über das Kontaktverbot hinweg und rufen den Vater regelmäßig heimlich an. Nono lebt nun mit einem Mann zusammen, den er in der schwulen Szene kennengelernt hat. Der Verlust der Familie belastet Nono jedoch sehr. Er sieht jedoch keine Möglichkeit, diesen Zustand zu überwinden.
Dennoch steht Nono zu sich selbst und nimmt das Ausgestoßen-Sein auf sich. Nach dem anfänglichen Abbruch der Beziehungen wird klar, dass seine Familie nicht ohne ihn klarkommt. Als sein Sohn verheiratet wird und es Probleme mit dessen Kindfrau gibt, schaltet Nono sich ein und biegt die Sache zurecht. Es findet sich ein Modus vivendi, bei dem Nono Bestandteil seiner Familie und gleichzeitig frei sein kann. Mit Mitte dreißig ist Nono bereits Großvater, besitzt eine eigene Zahnarztpraxis und lebt in einer funktionierenden schwulen Beziehung. Eine - wie gesagt - unwahrscheinliche Lebensgeschichte.

Jürgen empfiehlt (Winter 2016/17)
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