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James Tiptree, jr.: Sternengraben

James Tiptree, jr.: Sternengraben

Dt. v. Eva Bauche-Eppers u.a. Ö 2014, 333 S., geb., € 22.92
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Septime
Inhalt
Heute in einer Zeit, in der die Science Fiction hinter der immer beliebter werdenden Fantasy-Literatur zurückgetreten ist, wirkt Alice B. Sheldons Begeisterung für Raumschiffe, Technik, außerirdische Spezies und Kulturen sehr erfrischend. Viele finden in der Science Fiction stecke zu viel Wissenschaft, Technik, Weltraumkälte und zu wenig Menschliches. Doch wenn sie gut gemacht ist, geht Science Fiction urmenschlichen Fragen auf den Grund und entwickelt ihre große Stärke: die Utopie, bzw. ihr negatives Gegenbild die Dystopie. Das gilt in starkem Maße für das gesamte Werk von Alice B. Sheldon, die sich zur Überraschung ihrer Leser und selbst der Fachleute über lange Zeit ihres schriftstellerischen Schaffens hinter dem männlichen Pseudonym »James Tiptree, jr.« verbarg. Lange Zeit hatten Spekulationen darüber kursiert, welche Person sich tatsächlich hinter Tiptrees Namen verstecken könnte. Doch als sich Sheldon noch zu Lebzeiten hinter dem männlichen Pseudonym als Frau outete, war darauf wohl niemand gefasst. Das ging so weit, dass sich eine SF-Koryphäe wie Robert Silverberg zu einer ungläubigen Abqualifizierung des Outings als »absurd« verstieg. Seine Begründung lautete: Tiptrees Geschichten hafte etwas durch und durch Männliches an - also könnten sie unmöglich von einer Frau geschrieben sein. Sheldons Erzählungen haben etwas Frisches und positiv Innovatives. Als Beispiel hierfür möchte ich den Erzählband »Sternengraben« anführen, der eben neu und erstmals in deutscher Übersetzung erschienen ist. Sheldons Kosmos ist kein ungefährlicher Ort. Aber er ist auch nicht beängstigend, denn er lässt sich meistern. Die Menschen in diesen Erzählungen sind mutige Entdecker, versierte Spezialisten - oft Frauen, die sich von den lauernden Gefahren nicht einschüchtern lassen. Es gibt eine »Föderation« verschiedener raumfahrender Spezies - dazu gehören die Menschen. Die Föderation hat sich bis zu einem Ort in der Galaxis ausgedehnt, der der »Sternengraben« genannt wird - eine natürliche, riesige, sternenlose Barriere, die nur schwer zu überwinden ist.
Zwei Aliens, die die menschliche Geschichte für ein Studienprojekt erforschen wollen, kommen in eine große Bibliothek der Zukunft auf dem Planeten Deneb. Der Bibliothekar soll ihnen auf der Suche nach einschlägigen Texten helfen. Nach anfänglicher Skepsis sucht er ihnen nacheinander drei Texte heraus, die er für relevant hält. Alle drei stehen im Zusammenhang mit dem Sternengraben.
Die erste eingebettete Geschichte »Das einzig Vernünftige« befasst sich mit Coati, einer eigenwilligen Ausreißerin im Teenageralter, die mit ihrem eigenen Raumschiff allein aufbricht, um auf der Suche nach verschollenen Raumfahrern den Sternengraben zu erforschen. Dabei stößt sie durch Zufall auf eine leicht zu übersehende, außerirdische Spezies. Der Erstkontakt verläuft relativ ungewöhnlich, denn das außerirdische Wesen hat sich bereits parasitisch in Coatis Hirn eingenistet, als es sich bei seiner neuen Wirtin meldet. Im Laufe der Inter-Spezies-Kommunikation stellt sich heraus, dass der Erstkontakt mit den Samen und Sporen der sog. Ean nicht ganz ungefährlich ist. Coati muss erfahren, dass er schon den Verschollenen das Leben gekostet hat. Mutig entschließt sich die junge Frau zur einzig vernünftigen Tat, ohne sich gegenüber dem neuen Mitbewohner ihres Gehirns zu verraten.
In der zweiten Geschichte »Lebt wohl, ihr Lieben« trifft ein ehemaliger Soldat, der nun als Abschleppunternehmer im All tätig ist, auf eine Jacht, die kurz davor steht, interstellaren Sklavenhändlern in die Hände zu fallen. Ihm gelingt es, das Schlimmste abzuwenden und Schiff sowie Besatzung vor den Piraten zu retten. Was er nicht ahnen konnte, ist die Entdeckung, dass sich an Bord der Jacht seine Jugendliebe befindet. Pavel hat sich auf Grund vieler Unterlichtflüge im Kälteschlaf nicht viel verändert und sieht noch immer wie 30 aus, während die Zeit an seiner Raven nicht spurlos vorübergegangen ist. Sie ist nun mit über 100 eine alte Frau. Als Pavel die Sklavenhändler verfolgt, entdeckt er einen exakten, aber jungen Klon von Raven. Pavel sieht sich nun mit einem ungewöhnlichen Zwiespalt konfrontiert: welcher der beiden Frauen gehört denn nun seine Liebe? Der alten, mit der er schöne Erinnerungen von früher teilt? Oder der jungen, deren körperlicher Anziehungskraft er sich auch jetzt nicht entziehen kann, mit der ihn aber sonst nichts verbindet?
In der dritten Geschichte »Kollision« muss eine Raumschiffbesatzung für die ganze Menschheit eintreten, um einen interstellaren Krieg abzuwenden. Mit einer außerirdischen Spezies, bei der die männlichen Wesen die Kinder austragen, legen sich die Menschen an, die neue Welten entdecken und dort durch Terraforming neue Kolonien gründen wollen. Die Missverständnisse zwischen Föderation und der neuen, als feindlich eingestuften Spezies drohen zu eskalieren und in eine interstellare Auseinandersetzung zu münden. Ohne dass es den Betroffenen bewusst ist, steht alles auf Messers Schneide. Nur eine Verkettung günstiger Umstände kann das Schlimmste verhindern. Bei Alice B. Sheldon handelt es sich nicht um eine lesbische Autorin. Das muss klar gesagt sein. Aber einiges sowohl in ihrem Leben als auch in ihrem Werk berührt eindeutig Terrain, das bei Lesben Resonanzen auslösen dürfte. In ihrer Biografie gibt es einige Punkte, die zumindest auf Identitätsprobleme schließen lassen. Angefangen bei einer erfolgreichen, dominanten Mutter über eine frühe, dysfunktionale, erste Ehe, zu der sie von ihrer Mutter gedrängt wurde, über ein tief reichendes Unbehagen mit der eigenen sexuellen und geschlechtlichen Identität und über das Gefühl, isoliert zu sein, bis hin zu Depressionen, zu einer Tablettenabhängigkeit und einem Selbstmordpakt mit ihrem zweiten Ehemann. Sie entstammt einer Chicagoer Familie der gehobenen Mittelschicht, wuchs ziemlich verwöhnt auf. Später wurde sie Malerin und Kunstkritikerin. Im 2. Weltkrieg arbeitete sie für die US-Armee und nach dem Krieg kurz für die CIA. Anschließend betrieb sie eine Hühnerfarm und studierte Psychologie. In der Abschlussphase ihres Studiums begann sie zur Entspannung mit dem Schreiben von Science Fiction-Stories. Ihr Werk - wenn auch unter dem Pseudonym James Triptree geschrieben - strahlt dagegen immense Selbstsicherheit und Optimismus aus, obwohl die Geschichten häufig mit Tod und Selbstopfern enden. Es umfasst 60 Stories und zwei Romane. Ihre Science Fiction-Geschichten gelten im Genre inzwischen als echte Klassiker. In ihnen thematisiert sie fast immer den Geschlechterkonflikt, zudem die fast ausschließlich männliche Gewaltbereitschaft, die in ihren Stories meist sexuell abgeleitet wird. Nicht selten wird sie dabei recht deutlich. Die latent vorhandene Gewalt äußert sich in Vergewaltigungen, Kindstötungen oder in einer unsensiblen Abschätzigkeit der Männer gegenüber Frauen. Oft haben wir es in ihren Geschichten mit Frauen zu tun, die von Männern unterdrückt oder missachtet werden, obwohl sie den Männern völlig ebenbürtig sind. Die männlichen Unterdrücker können sich jedoch auf allgemein akzeptierte Wertvorstellungen der jeweiligen Kulturen stützen. Die von Sheldon geschilderten militärischen, männlich dominierten Bürokratien und Hierarchien kommen nicht ungeschoren davon - sie überzieht sie mit Sarkasmus. Und die den Frauen zugewiesene, bzw. zufallende Opferrolle nehmen die Frauen in Sheldons Geschichten nicht an. Sie sind selbstbewusst, einfallsreich und wehrhaft. Sicherlich reflektiert Sheldon in ihren Geschichten feministische Gedanken.
»Sternengraben« enthält unterhaltsame Science Fiction-Geschichten, die ich jeder Interessierten nur wärmstens ans Herz legen kann. Wer sich im Übrigen ausführlich über Alice B. Sheldons Leben informieren möchte, dem bietet sich Julie Phillips' Biografie »James Tiptree Jr. - Das Doppelleben der Alice B. Sheldon« aus dem Jahr 2013 an.

(Jürgen empfiehlt - Winterkatalog 2014/15)
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