Gemeinschaft macht stark – doch was macht unsere Gemeinschaft eigentlich aus?
Von Veit Georg Schmidt
Warum treten wir als Gemeinschaft auf? Sind es nur die gemeinsamen Interessen? Ist es ausschließlich die pragmatische Reaktion auf Diskriminierungserfahrungen? Gibt es mehr Gemeinsamkeiten als Leidensdruck und Party? Gibt es so etwas wie einen harten Kern, der uns Lesben und Schwule immer wieder gemeinsam in Erscheinung treten lässt? Immer mehr Diskriminierungen werden nach und nach abgebaut, systematische staatliche Repression oder gar Verfolgung ist in den westlichen Demokratien weitgehend verschwunden, die gesellschaftliche Akzeptanz hat spürbar zugenommen. Gerade wenn äußerer Druck nachlässt oder gar entfällt, nimmt gegenläufig die Schutzfunktion eigener organisierter Zirkel und Verbindungen ab. Wir sehen aber gleichwohl immer noch eine Blüte der lesbisch-schwulen Community. Internet-Portal-Seiten, Lokale, Unternehmen, Vereine und Parteiorganisationen: Die Reihe ließe sich mühelos verlängern, lesbisch-schwules Gesellschaftsleben erlebt eine Vielfalt, von der wir in den vermeintlich so politisch aktiven 70er Jahren keine Vorstellung hatten. Dass diese Aktivitäten sich sämtlich wechselseitig durchdringen und nicht nur vereinzelte Geselligkeitsereignisse sind, zeigt nicht nur eindrucksvoll, wie gerade die lesbisch-schwule Community eine der vielen Keimzellen der Gesamtgesellschaft ist; es wirft zugleich die Frage auf, ob es ein gemeinsames Band dieser Community gibt und was dies sein könnte.Gemeinsamkeiten alleine sind nicht hinreichend
Die einfachste Erklärung folgt der Volksweisheit »Gleich und gleich gesellt sich gern«. Doch längst nicht jedes gleiche Merkmal lässt Gemeinschaften entstehen, schon gar nicht weltweit, wie wir es bei uns Lesben und Schwulen beobachten können. Sicher, hinzu kommt das Coming-out als eine Grunderfahrung, die für viele ein Leben lang bestimmend ist. Nicht, dass es immer wieder rekapituliert werden müsste oder würde; aber in vielen Lebenslagen lässt sich immer wieder ein Bezug zum eigenen Coming-out herstellen. Ein gemeinsames Merkmal und eine immer wieder ähnliche Grunderfahrung sind starke Triebfedern, immer wieder zusammen zu finden und Dinge gemeinsam zu machen. Aber reicht das auch zur Bestimmung dessen aus, wie unsere Gemeinschaft zu bilden, aufzubauen, zu erhalten ist? So mag es sein, dass das Motiv in einem harten Kern des Anderssein wurzelt. Doch die wechselvolle Geschichte der ersten wie der zweiten schwulen und lesbischen Emanzipationsbewegung zeigt, dass dies ganz und gar nicht als hinreichendes Merkmal empfunden wurde. Die Frage nach der Aus- bzw. Abgrenzung, wer dazugehören soll und wer nicht, begleitet die Schwulen- und Lesbenbewegung nämlich von Anfang an.
Jede Community grenzt mindestens so stark ein, wie sie auch verbindet
Vor allem Schwule waren immer wieder vom Drang beseelt, Wohlanständigkeit unter Beweis zu stellen. Schon in der ersten Schwulenbewegung in der Zwischenkriegszeit wurden darum Aktivisten verdrängt, die Themen aufgriffen, die den Kampf um Gleichberechtigung zu gefährden drohten: Magnus Hirschfeld bootete darum den ansonsten von ihm geschätzten John Henry Mackay eiskalt aus, der immer wieder Sexualität von Jugendlichen und Prostitution ansprach. Die Aktivistinnen und Aktivisten der Mattachine-Society der 50er und 60er Jahre waren unbeschadet ihrer Erfolge regelrecht besessen davon, der Gesellschaft ein positives Bild von Lesben und Schwulen zu vermitteln; alles Aneckende bekam nicht im Ansatz eine Chance. Die zweite Lesben- und Schwulenbewegung nach Stonewall begann zwar mit einem revolutionären Ansatz, doch die Debatten, wer überhaupt oder nur ein bisschen dazugehört und wer nicht, sind Legion: Müssen Pädophile ausgeschlossen werden? Dürfen Mann-zu-Frau-Transsexuelle an einem Women-only-Workshop teilnehmen? Sind Bisexuelle Verräterinnen und Verräter? Solchen Abgrenzungen nach innen stehen die Abgrenzungen nach außen zur Seite, wie schon vor fast einem Jahrhundert setzt sich hier der Hang durch, den Anschluss an bürgerliche Lebensformen zu finden: Ehe, Kinderwunsch und rechtlich-finanzielle Themen dominieren die Debatten und werden sämtlich unter dem Vorzeichen geführt: »Was die Mehrheit hat, wollen wir auch haben.«Demgegenüber standen und stehen immer wieder Gegenströmungen, die Alternativen ausprobieren und oft auch durchsetzen wollten. Nicht zuletzt der größte Erfolg der lesbisch-schwulen Emanzipationsbewegung geht auf diese Unangepasstheit zurück: Denn gegen jeden Plan der damals noch dominierenden Mattachine-Bewegung probten Transgender, Lesben und Schwule im Sommer 1969 den Aufstand, zeigten gerade kein schönes und angepasstes Bild, wehrten sich und griffen sogar zu Gewalt. Die befreiende Wirkung dieser Revolte hält bis heute an, die Pride-Veranstaltungen, unsere Paraden und Straßenfeste sind die unmittelbare Folge. Immer wieder treten aber auch zunächst kleinere Gegenbewegungen auf, die sich deutlich vom lesbisch-schwulen Mainstream abgrenzen wollen. In manchen Städten hat dies dazu geführt, dass es zur großen Parade eine Gegenparade gibt. Aber auch die Debatten um unsere Selbstbezeichnung werden immer wieder angeheizt: Sind wir schwul bzw. lesbisch? Queer? Gay? GLBT? Alles – je nach Lebenslage? Dass solche Debatten alles andere als reine Wortklauberei sind, zeigt die Entwicklung der Debatte um »queer« als lesbisch-schwule Selbstbezeichnung. Angestoßen wurde das Konzept zwar auch von Außenseitern der Community, denen die Mehrheits-Bewegung – vor allem die nach außen wahrnehmbare – zu stark verspießert war. Aufgegriffen und über Jahre weitergetragen wurde diese Debatte jedoch vor allem im akademischen Bereich und in der Filmszene (Link). Mittlerweile hat sich daraus eine neue lesbisch-schwule Parallelkultur entwickelt, eigene neue Lebensentwürfe werden nicht nur formuliert, sondern auch ausprobiert und den bestehenden Mustern als lebenswertere Variante entgegengesetzt: »Was die Mehrheit hat, wollen wir nie und nimmer haben!«
Schaut man also genauer, scheinen Lesben und Schwule gar nicht mehr so viele gemeinsame Interessen für einen Zusammenhalt ihrer Community aufzubringen. Und oft werden die gegenläufigen Positionen mit einiger Aggression vorgebracht, immer wieder so weit polarisiert, dass zwischen echt und falsch, dazugehörig und auszuschließen unterschieden wird – sehr plastisch wurde uns dies 2010 anlässlich der geplanten Preisverleihung an Judith Butler im Rahmen des Berliner CSD vor Augen geführt. Butler lehnte den Preis ab, weil sie bei den Organisatorinnen und Organisatoren der Preisverleihung eine fehlende Distanz zu Rassismus und politischen Mainstream sah, was im völligen Widerspruch zu den Zielen der lesbisch-schwulen Bewegung stehe. Gleichzeitig nannte sie in ihrer Ablehnungsrede einige Gruppen, die den ihr zugedachten Preis tatsächlich verdient hätten. Viel deutlicher kann eine Spaltung der lesbisch-schwulen Gemeinschaft nicht benannt und zugleich propagiert werden.
Eine starke Community lebt vom Dissens
Sicher ist, dass uns ein gemeinsamer, einheitlicher Lebensentwurf, ein Grundkonsens, was wir von uns und der Welt erwarten, nicht zusammenhält. Und nicht nur beim Großen und Ganzen gehen die Meinungen auseinander, auch was die richtigen tagespolitischen Ziele sind oder wie eine Parade am besten zu organisieren ist, ist regelmäßig umstritten. Aktivisten wurden für Outing-Aktionen als Verräter beschimpft, die Teilnahme bzw. Nicht-Teilnahme an einer Kundgebung konnte zum Lackmus-Test der Zugehörigkeit zum Lager der Aufrechten der lesbisch-schwulen Community hochstilisiert werden. Lebendiger Streit also allenthalben. Unsere religiöse Tradition fasst diesen Zustand sinngemäß so zusammen: »Wo zwei Schwule oder Lesben sich im Namen der Bewegung versammeln, da ist der Streit mitten unter ihnen.« Es ist aber genau dieser Streit, der den Motor unserer Gemeinschaft ausmacht und der uns zusammenhält. Nicht der fixierte Konsens, sondern die Suche nach unseren Vorstellungen bringt uns zusammen, und gerade und nur weil immer wieder Uneinigkeit aufkommt, bleibt die lesbisch-schwule Community lebendig. Das bedeutet natürlich nicht, dass stets und ausschließlich gestritten würde, sondern nur, dass es keine festgelegte Grundübereinkunft gibt, die jenseits jeglicher Auseinandersetzung stünde. Die allgegenwärtige Möglichkeit von Uneinigkeit und Streit über uns selbst, unsere Ziele, unsere Lebens- und Gesellschaftsentwürfe ist stärkerer Zusammenhalt als jeder Gemeinplatz, den sich vermeintlich jede und jeder zu Eigen machen könnte. Unsere Regenbogenparade ist darum – trotz aller Fixpunkte in ihrem Ablauf – kein ritualisierter womöglich ständischer Repräsentations-Umzug. Sie ist nicht nur Ausdruck, sondern geradezu Teil unseres Lebens, indem sie völlig unterschiedliche Ansätze und Lebensentwürfe zeigt. Wir haben also kein gemeinsames Band nötig, das uns zusammenhält – im Gegenteil, das können wir gar nicht gebrauchen. Was uns zusammenhält, ist, dass wir uns nicht festlegen lassen, dass wir manchmal gemeinsam und oft gegeneinander danach suchen, was für uns schwules oder lesbisches Leben bedeuten könnte.(Zuerst veröffentlicht im Pride-Magazin vom CSD Vienna zur Regenbogenparade 2013)