»Warum gibt es das nicht auch in Wien?« Teil 2

Zur Geschichte der Buchhandlung Löwenherz – Teil 2

Von Jürgen Ostler

1984 verschlug es mich mit 20 der Liebe wegen nach Österreich. Mein »Österreich I« begann. Ich zog zu meinem Boyfriend Peter nach Mödling, führte mein Studium fort und pendelte daher täglich mit Schnellbahn und U-Bahn zur Uni am Schottentor von Niederösterreich nach Wien hinein. Damals lernte ich im »Soziologischen Praktikum« meine spätere, beste Freundin Manuela kennen – eine Freundschaft, die bis heute gehalten hat. Manuela war diejenige, die ein paar Jahre später die Anzeige im »Falter« entdecken und mir den Tipp geben sollte, dass für das Projekt einer schwulen Buchhandlung in Wien ein Buchhändler gesucht würde und ich mich doch am besten gleich dort bewerben solle.

Katalog der Buchhandlung "Sodom" aus München von 1984

Katalog der Buchhandlung „Sodom“ aus München von 1984

Anders als in München stellte es sich in Wien als schwerer heraus, an schwule Bücher und Zeitschriften heranzukommen. Es gab zwar den »Hirtl« mit einem schwulen Eck und den »American Discount« – aber den Vergleich mit dem »Sodom« hielten beide nicht im entferntesten stand. Ich war nun ja an Besseres gewöhnt. Sicherlich gab es in Uni-Nähe viele Buchhandlungen. Aber die hatten nicht einmal ein »schwules Regal«. Und so begann ich das »Sodom« zu vermissen.
Immer wenn ich mal zu meinen Eltern nach Hause fuhr und sich ein kleiner Abstecher nach München ausging, konnte ich nicht umhin, auch mal ins »Sodom« im Viertel um den Gärtnerplatz hineinzuschneien. Das waren meist größere Einkäufe, weil ich dann für Freunde in Wien – insbesondere für Peter – immer auch einige Bücher mitbringen musste. Und ich selbst musste mit den Einkäufen ja auch längere Durststrecken überbrücken – manchmal kam ich ein halbes Jahr nicht nach Bayern.
In dieser Zeit kam in Gesprächen zwischen Peter und mir die legendäre Frage auf: »Warum gibt es das eigentlich nicht auch in Wien?« Gemeint war mit »das« das »Sodom« – eine schwule Buchhandlung, in der es Literatur für Schwule zu kaufen gibt, in der man sich informieren kann über einschlägige Literatur und was gerade so abläuft in der Stadt. Für mich wurde das »Sodom« zu einer Art Modell, ein Archetyp eines schwulen Buchladens – vor allem, als ich es zu vermissen begann. Irgendwie implizierte diese Frage von Anfang auch die Überlegung, dass man persönlich etwas gegen diesen defizitären Zustand unternehmen müsste. Liebend gern hätten wir selbst so etwas auf die Beine gestellt, ein Abbild von »Sodom« in Wien eröffnet – ohne die geringste Ahnung zu haben, wie man eine Buchhandlung – egal ob schwul oder nicht – überhaupt führt; was es bedeutet, ein schwuler Buchhändler zu sein; was dazu gehörte; was es überhaupt für einen größeren Hintergrund hatte; was man dazu wissen und können musste.

So schwer könne das ja nicht sein – dachten wir uns damals – wohl etwas naiv zugegeben. Auch hatten wir nicht den blassesten Schimmer, was für eine finanzielle Anstrengung es bedeuten würde, so eine Buchhandlung aus dem Boden zu stampfen, sie quasi »hinzustellen« – geschweige denn sie auch zu betreiben. Ich sollte es noch erfahren.

Peter, der das »Sodom« auch kannte, und mir erschien das Fehlen eines entsprechenden Ladens als eine schmerzliche Lücke in einer sonst fröhlich erblühenden, sehr lebendigen Szene, die Wien damals aufwies. Aber ein »Sodom« hatte die Stadt nicht zu bieten. Das hatte München Wien einfach voraus.
Durch die Beziehung, die neue Heimat und das Studium, in das ich mich hineinkniete, verlor ich in den kommenden Jahren dennoch das »Sodom« aus den Augen. Die Abstecher beschränkten sich auf ein-, zweimal im Jahr.
Für die Fachliteratur, die ich fürs Studium brauchte, gab es genügend Buchhandlungen in Wien. Sehr selten verirrte sich auch der eine oder andere »schwule Titel« in deren Regale. Es schärfte in mir das Gefühl einer Lücke – dass Wien da echt etwas fehlte. Den wenigsten Schwulen war das vielleicht bewusst, nachdem sie das Fehlende noch gar nicht hatten kennenlernen können. Und so stieß ich oft auf Unverständnis. Am ehesten konnten mir das noch solche Schwule nachempfinden, die in der Welt herumgekommen und dadurch mit dem Konzept eines schwulen Buchladens vertrauter waren.

Im Zuge der zweiten Schwulenbewegung in der Folge des Stonewall-Ereignisses waren schwule Buchläden an verschiedenen Orten der Welt entstanden in Analogie zu den Frauenbuchläden: in New York, Philadelphia, San Francisco, Toronto, London, Paris – und Anfang bis Mitte der 1980er Jahre mit den Läden in Berlin, Hamburg, München, Stuttgart und Köln auch in Westdeutschland. Die schwulen Buchläden waren ein Ausdruck gestiegenen schwulen Selbstbewusstseins und auch des Problems, dass Schwule sich mit ihren Bedürfnissen und Interessen in den Heterobuchläden oft nicht wiederfanden. Der schwule Buchladen sollte das Monopol der Heterobuchläden brechen. Sie spezialisierten sich auf ein Sortiment, das anderswo nicht angeboten wurde.

Die ersten schwulen Buchläden waren selbstverwaltete Projekte – nahe an der Selbstausbeutung. Oft mussten sie auch auf freiwillige Helfer zurückgreifen, die kein oder nur wenig Geld bekamen. Sie waren aus der schwulbewegten Subkultur heraus entstanden, standen ihr weiterhin nahe und bedienten die Bedürfnisse der Schwulen, die dieser Subkultur angehörten und deren Bedürfnisse und Interessen anderswo nicht wahrgenommen oder einfach ignoriert wurden – so im wesentlichen das Konzept. Die schwulen Buchläden boten ein Spektrum schwuler Literatur an, das sonst nur schwer bis gar nicht zu bekommen war. Es war (und ist) ihre historische Leistung – schwule Literatur zugänglicher gemacht zu haben für den schwulen Kunden (und dies auch weiterhin zu tun) – eine Auswahl zu treffen, die sonst im Buchhandel niemand gemacht hätte, bzw. machen würde. Und hier in den schwulen Buchläden musste man sich weder »schämen« noch rechtfertigen dafür, dass man »solche« Literatur haben wollte. Es waren andere Zeiten selbst in unseren Breiten, die noch immer mit begründeten oder unbegründeten Ängsten behaftet sein konnten. Vieles wurde noch immer totgeschwiegen, war verpönt. Der »Heterobuchhandel« wollte nichts damit zu tun haben; zeigte ein Desinteresse, das wohl einer gewissen Homophobie geschuldet war.

Und so wundert es nicht, dass die Homosexualität von so manchem Autor, bzw. in dessen Werk erst aufgedeckt werden musste. Dazu war oft eine geradezu detektivische Leistung nötig – alles Teil der Tätigkeit eines schwulen Buchhändlers.
Darüber hinaus sind die schwulen Buchläden aber immer auch schon Orte der Kultur und der Begegnung gewesen. Sie organisieren Lesungen und andere Events. Sie bringen Leser und Schriftsteller zusammen. Sie sind Anlaufstellen innerhalb der Community, über die man sich Informationen besorgt.

Nicht in Wien

Der Umstand der Nichtexistenz eines solchen Ladens in Wien brachte mich dazu, einschlägige Literatur an anderen Stellen zu suchen. Da lag für mich als Studenten die Universitätsbibliothek auf der Hand – sie war quasi der natürliche Ort, an dem sich schwule Titel hätten befinden können. Doch das Nachschlagen in den Zettelkästen entpuppte sich als umständlich und wenig ergiebig. Außer Zufalls- und exotischen Funden war da nichts Nennenswertes zu holen.

Mit der »American Discount«-Kette gab es Läden in der Stadt, die immerhin schwule Pornomagazine aus den USA führten. Sie waren etwas Neues für mich. »Sodom« hatte sich in diesem Zusammenhang sehr zurückgehalten, da sie wohl Beschlagnahmen durch die rigorose Münchner Polizei zu befürchten hatten, hätten sie diese Art Magazine im Sortiment geführt.

In Österreich schien man das auch bedenken zu müssen: im Innern der Magazine waren besonders explizite Stellen nämlich ausgelackt. Das lag an dem damaligen rabiaten Pornografiegesetz in Österreich, das schwule Pornografie automatisch als hart einstufte – sie war damit praktisch verboten. Mit dem Auslacken als einer Form der Selbstzensur wollte man beim »American Discount« der Beschlagnahme der Waren vorbeugen. Aus ökonomischer Sicht nur logisch – für den Konsumenten eine himmelschreiende Angelegenheit. Es war einer der Punkte, an denen man sich spürbar diskriminiert fühlte: denn Heteropornos – und die konnten mit dem Gezeigten noch viel weiter gehen – hatten solche voraus greifende Zensur nicht zu fürchten.
In dieser Zeit (ich nenne sie »Österreich I«) lernte ich über meinen damaligen Boyfriend Peter im HOSI-Zentrum in der Novaragasse auch Leo Kellermann kennen, der ein paar Jahre später das Projekt von Löwenherz & Berg ins Leben rufen und dann auch ins Rollen bringen sollte. Leo arbeitete damals als freier Journalist fürs österreichische Fernsehen.

Es entstand ein eher flüchtiger Kontakt. Man kannte sich von ein paar Mal plaudern, und dabei sollte es für die nächsten Jahre bleiben. Denn wie das Leben so spielt – überlebte die Beziehung zu Peter das Jahr 1987 nicht, bzw. wollte ich sie nicht einfach nur als Wohngemeinschaft fortsetzen, nachdem die Liebe zerbrochen war. Nach ein paar Monaten bei den Eltern in Bayern verschlug es mich auf Betreiben eines guten Freundes nach Hamburg. Wien war erst einmal in weite Ferne gerückt, auch wenn der Kontakt nach Österreich und zu den Freunden in Wien nie vollständig abriss.

Am Rande von St. Pauli – das »Männerscharm«

Buchhandlung Männerschwarm in Hamburg, damals am Neuen Pferdemark

Buchhandlung Männerschwarm in Hamburg, damals am Neuen Pferdemark

An einem meiner ersten Tage in Hamburg führte mich der Weg wie selbstverständlich zum schwulen Buchladen »Männerschwarm« am Neuen Pferdemarkt am Rand von St. Pauli. Vom Prinzip her waren »Sodom« und »Männerschwarm« sich sehr ähnlich. Sie basierten auf demselben Konzept eines schwulen Buchladens. Zwischen den Läden gab es Anfänge einer Kooperation, die später in die Arbeitsgemeinschaft der schwulen Buchläden Deutschlands einmünden sollte, zu der Löwenherz – da in Österreich – nie dazugehören würde.
Nachdem ich das »Sodom« schon kannte, fiel es mir leicht, mich im »Männerschwarm« zurechtzufinden. Als ich von Hajü – einem der beiden Betreiber – gefragt wurde, ob ich Hilfe bräuchte, sagte ich, dass ich mich nur umschauen wollte. Und ich bin mir sicher, dass sein Schmunzeln nicht nur der südlich klingenden Intonation meiner Worte galt.

Von da an begann ich mich mit Büchern und Zeitschriften bei »Männerschwarm« einzudecken. Ich brauchte immer wieder Bücher für mein Geschichtsstudium, Fachliteratur, die man in der Universitätsbibliothek oder an den Instituten nicht entlehnen konnte – oder solche, die ich auch einfach nur selbst besitzen wollte. Meine Eltern und meine Großmütter versorgten mich während des ganzen Studiums mit einem zusätzlichen Bücherbudget. Wenn meine Omas gewusst hätten, wofür ich ab und zu das geschenkte Geld ausgab … Aber sie fragten nie. Und das Studium schritt stetig voran – also würde es schon passen.
Zu den Buchhändlern von Männerschwarm entwickelte sich mit der Zeit ein freundschaftlicher Kontakt. Sie begannen mich zu kennen. Immerhin unterhielt man sich oft miteinander – nicht immer nur über Bücher. Wenn ich das Geschäft betrat, gab’s immer ein Lächeln des Wiedersehens. Und ich glaube mich erinnern zu können, dass ich ab und zu auch etwas zu trinken angeboten bekommen habe. Ich glaube, es war Kaffee – bin mir aber nicht mehr sicher.

Ich weiß noch, dass ich mich in dem Laden am Neuen Pferdemarkt sehr zuhause fühlte. Inzwischen ist Männerschwarm ja schon lange vom »sündigen« Viertel St. Pauli westlich der City ins damals nicht weniger »sündige« St. Georg östlich davon übersiedelt. Die schwule Szene der Stadt hatte sich verlagert. Und der schwule Buchladen sah sich gezwungen, irgendwann nachzuziehen.

Wo kriegt man »seine« Bücher her?

Der ursprüngliche Laden in St. Pauli hatte eine nette, persönliche Atmosphäre besessen, die sich absolut von dem Unpersönlichen unterschied, das Großbuchhandlungen prägte. Manchem mochte wohl die Anonymität großer Buchhandlungen psychologisch entgegenkommen. Ich dagegen begann die persönliche Ansprache, auch den persönlichen Kontakt zu den Buchhändlern und ihre Beratung zu schätzen. Damals – anders als heute – mussten Titel im gedruckten »Verzeichnis lieferbarer Bücher« mühselig nachgeschlagen werden. Wie der Name schon sagt, umfasste das VLB alle lieferbaren, deutschsprachigen Buchtitel und war in den 1980er Jahren bereits zu einem mehrbändigen Wälzer angewachsen, der einmal im Jahr – zur Frankfurter Buchmesse – durch eine komplett aktualisierte Neuauflage ersetzt wurde. Heute genügen ein paar Klicks im Internet – und schon findet man gesuchte Titel. Damals waren die Buchhändler die »Hüter des gesammelten Bücherwissens«, wie es Veit gern prägnant auf den Punkt bringt. Inzwischen sind wir alle ein bisschen entzaubert worden, auch wenn der Zauber des Buches selbst nie erlöschen wird. Es bedarf keinen großen Geschickes mehr, um an gesuchte Titel – auch als Laie – heranzukommen. Heute ist es die Kunst der Buchhändler, aus der immensen Masse an Neuerscheinungen eine relevante Auswahl zu treffen – dem Kunden quasi durch den unüberschaubar gewordenen Buchmarkt zu helfen und ihm entscheidungsrelevante Informationen an die Hand zu geben.

Die Buchhändler von Männerschwarm - im damaligen Laden am Neuen Pferdemarkt

Die Buchhändler von Männerschwarm – im damaligen Laden am Neuen Pferdemarkt

Die Jungs von Männerschwarm kannten ihre schwulen Bücher. Sie hatten ihr Sortiment im Griff. Sie konnten einem sagen, wie viel an dem oder dem Buch schwul war. Ihre Empfehlungen hatten Hand und Fuß.
Sie sagten einem auch: »Lass dieses Buch vielleicht besser liegen! Wir haben es aus dem und dem Grund hier. Aber es ist bestimmt nichts für dich. – Dagegen könnte ich mir vorstellen, dass dich dieses Buch viel mehr interessieren dürfte.« Oft hatten sie Alternativen parat.

Sie versuchten sich in mich als Kunden hineinzudenken; seinen Bedarf und die Vorlieben zu ergründen; um dann auf Wunsch möglichst passende, erfahrungsgestützte Empfehlungen auszusprechen. Mich beeindruckte ihr Wissen immens. Und – ohne es zu ahnen – habe ich von ihnen für die eigene Zukunft einiges gelernt. Sie konnten damals nicht ahnen, dass ihnen mit mir ein Wiener Homobuchhändler der ersten Stunden gegenüberstand. Ich ahnte es ja selbst nicht, obwohl bei mir immer das »Warum gibt es das nicht auch in Wien?« im Hinterkopf herumgeisterte. Dass ein solcher Laden einmal mit meiner Hilfe Realität werden würde, wäre mir eher als kühner Traum erschienen.

Zwischen zwei Vorlesungen verbrachte ich gerne Zeit bei den Männerschwärmern. Und ich hatte auch dann nicht den Eindruck weniger willkommen bei ihnen zu sein, wenn ich einmal nichts oder nur eine Zeitschrift bei ihnen kaufte. Denn manchmal wurde das Studiengeld knapp am Ende des Monats, und etwas essen musste ich ja auch noch. Vor allem bei Hajü hatte ich immer den Eindruck, als läge ein Studium bei ihm noch gar nicht so lange zurück. Er trug damals gern dicke, grob gestrickte Wollpullover, die in den späten 1980er Jahre so typisch für ein universitär-alternatives Milieu waren. Damit schien er gut in die Gegend zu passen, in der sich der Buchladen Männerschwarm damals befand – am Rand von St. Pauli – nicht weit von Schanzenviertel und Flora. Joachim war da völlig anders – er machte auf mich den Eindruck eines eleganten – auch etwas hanseatischen – Intellektuellen, für den der Umgang mit Büchern anscheinend zur zweiten Natur geworden war. Er hatte manchmal eine etwas gestelzte, schräge Art, Dinge zu betrachten und auszudrücken, die mir aber wunderbar unterhaltsam und oft auch plausibel erschien, während Hajü eher den ruhigen, legeren Typ abgab mit seinem studentischen Habitus, der mir als Studenten natürlich von Haus aus entgegenkam.

Wie wohl in jedem schwullesbischen Unternehmen ist es auch hier die Mischung der Persönlichkeiten gewesen, die das Wesen des Ladens ausmachte. So wie Hajü und Joachim konträre Charaktere darstellten, aber im Zusammenspiel ein funktionierendes Team ergaben, so ist das auch bei allen anderen schwullesbischen Buchhandlungen gewesen, die ich kennen gelernt habe – also auch bei Löwenherz mit Veit und mir.
Sowohl mit Joachim als auch mit Hajü konnte man sich herrlich über Bücher unterhalten. Sie schienen ihr ganzes Sortiment im Kopf zu haben – eine imposante Merkleistung. Mit der Zeit haben sie mir sogar Wünsche von den Augen abgelesen. Darüber hinaus bezog ich meine Informationen, was es denn Neues auf dem schwulen Buchmarkt gab, auch aus den Broschüren, die Männerschwarm auflegte. Schon in den späten 1980er Jahren gaben die deutschen schwulen Buchläden erste Kataloge ihres aktuellen Sortiments, bzw. mit den Neuerscheinungen heraus. Daraus entwickelte sich mit den Jahren »Der Dicke« und »Der Dünne«, mit denen die AG-Läden ihre Kunden über Neuerscheinungen – nicht nur des schwulen Buchmarktes – auf dem Laufenden halten.

Ich freute mich immer, wenn ich einen neuen Katalog mit nach Hause nehmen konnte. Ich glaube, ich habe jeden, den ich in die Finger bekam, von der ersten bis zur letzten Seite durchgeackert. Mit den Anstreichungen bin ich dann bei nächster Gelegenheit in den Buchladen gepilgert. Und wenn ich ein ausgewähltes Buch aus dem Katalog nicht gleich finden konnte, waren die Männerschwärmer zur Stelle und standen mir hilfreich zur Seite.
Die absolute Menge schwullesbischer Titel war damals deutlich überschaubarer als heute. Und dennoch war es damals wie heute eine geradezu detektivische Aufgabe nötig, um den schwulen Gehalt von Büchern oder die Homosexualität von Autoren zu eruieren. Es galt, schwule Literatur aus dem Schmuddeleck herauszuholen, sie mit all den Facetten ihres Spektrums sichtbar und auch zugänglich zu machen. Es war nicht einfach so, dass »es« von der Klappe abzulesen gewesen wäre. Im Gegenteil: die Homosexualität von Autoren wurde gern verschwiegen – homoerotische Inhalte unter den Teppich gekehrt. Nur von den wenigsten Autoren war es allgemein bekannt, dass sie schwul waren. Es gab noch viel zu entdecken. Heute sind wir weiter – viel weiter. Aber immer noch ist viel zu entdecken auf dem Feld schwuler Literatur.

Viele der etwa 12.000 Buchtitel, die wir heute bei Löwenherz lagernd haben, waren vor über zwanzig Jahren noch gar nicht geschrieben. Zwar sind auch viele Titel seit dem vergriffen, aber der alljährliche Zuwachs neuer Titel übersteigt bei weitem den Abgang. Umso schwieriger war es damals für die schwulen Buchhändler vom einschlägigen Ladensortiment allein zu leben. Das ist auch heute nicht einfach – aber aus ganz anderen Gründen – und hat mit dem Internet zu tun. Die Zubestellungen – Ausdruck der Solidarität eines Kunden mit »seiner« Stammbuchhandlung – waren damals wie auch heute sehr wichtig für ihr ökonomisches Überleben. Ohne sie ginge es vermutlich nicht.
Und so kanalisierte ich damals alle meine Buchkäufe auf Männerschwarm – aus dem einzigen Grund, um den Laden damit zu unterstützen. Ich fühlte mich dort gut aufgehoben. Schon damals hieß es in der Werbung: »Wir besorgen gerne jedes lieferbare Buch.« Ein Angebot, das heute genauso wie damals gilt; das inzwischen auch Zeitschriften, CDs, DVDs, E-Books – ja selbst antiquarische Titel – umfasst; und das inzwischen ganz selbstverständlich Bestandteil des Services aller schwulen Buchhandlungen geworden ist.

Ein besonderer Ort in Hamburg

Männerschwarm, die Buchhandlung in Hamburg

Männerschwarm, die schwule Buchhandlung in Hamburg – an ihrem alten Ort mit Blick aus dem Laden

In meiner Hamburger Zeit war ich mindestens einmal pro Woche im »Männerschwarm«, manchmal sogar noch öfter. Manchmal holte ich Bestellungen ab, manchmal wollte ich nur stöbern, einen Eindruck von bestimmten Büchern bekommen, sie selbst in die Hand nehmen, ein bisschen schmökern. »Männerschwarm« war zu einem Wohlfühlort in meinem Leben geworden. Ich liebte den hellen, einladenden Laden mit seinen beiden Buchhändlern, die sich gelegentlich auch mal durch Aushilfen vertreten ließen. Ich erinnere mich an den Weg in den Laden – meistens habe ich auf dem nachmittäglichen Heimweg von der Uni den kleinen Abstecher vom S-Bahnhof »Sternschanze« zum Neuen Pferdemarkt unternommen. Manchmal kam ich auch vom U-Bahnhof »Feldstraße« herüber. Man ging dann über den Vorplatz die Treppe zu dem Backsteinbau hinauf. Ich bewunderte die großen Frontscheiben des Ladens. In den Auslagen waren oft unübersehbar und mutig – aus meiner Sicht jedenfalls – die eindeutig schwulen Titel sichtbar platziert. Gemessen an heutiger Explizitheit »schwuler Cover« waren die Auslagentitel eher dezent, fast harmlos. Ich dachte damals oft, sie seien ziemlich gewagt, obwohl sie nicht pornografisch waren. Und – ehrlich gesagt – wunderte ich mich schon, was Passanten oder Hausbewohner zu solchen Auslagen sagen würden. Die liberale Einstellung der Hanseaten zu allen sexuellen Dingen – »Männerschwarm« befand sich immerhin in unmittelbarer Nähe zum Rotlichtviertel St. Pauli – hatte ich noch nicht so ganz verinnerlicht.

Am Anfang meiner Hamburger Jahre hatte ich noch nicht allzu viel Einschlägiges gelesen. Ich hatte noch immer Aufholbedarf. Ich verschlang Bücher – überwiegend Sachbücher. Aber neben den vielen Fachbüchern für die Uni ging auch fürs Herz das eine oder andere belletristische Werk mit mir mit nach Hause. Ich deckte mich ein mit Zeitschriften, Bildbänden, Postkarten und Büchern, die zuhause zu einer kleinen Bibliothek anwuchsen. Ich kümmerte mich nicht um den Platzmangel in meiner Studentenbude – all das gab einem das heimelige Gefühl von anderen Welten, anderen – womöglich mutigeren – Lebensentwürfen, ganz anderen Lebenserfahrungen, von den Welten da draußen, die ich noch nicht kannte, so aber kennenlernen konnte. Für mich als jemand, der auf dem Dorf groß geworden ist und lange glaubte, weit und breit der einzige Schwule zu sein, eröffnete das frisch Erlesene neue Horizonte, das schwule Leben anderer Menschen, wie ich es noch gar nicht kannte; wie ich es mir vielleicht erträumte, ohne es mir zugestehen zu können. Ich ließ mich überraschen und sog all das auf wie ein Schwamm – egal, ob es schöne Dinge oder schlimme beinhaltete.

Der Umzug von Männerschwarm nach St. Georg und die Entstehung des Verlags

Für mich als schwulen, damals jungen Mann hatte »der« schwule Buchladen eindeutig eine identitätsstiftende Funktion. Und ich glaube, ich bin nicht allein auf der Welt mit dieser – hochtrabend ausgedrückt – Urerfahrung. Es hat mich geprägt – mehr als mir damals vielleicht bewusst war. Aber es lässt sich nicht leugnen.
Seit den späten 1980ern hat sich viel getan bei Männerschwarm. In den 1990ern hatte der Laden eine Zeit lang eine Dependance in St. Georg – dort konnte man Bestellungen abholen – ein Service für Leute, denen ein Weg in den Laden in St. Pauli zu mühselig war. 2002 übersiedelte dann der ganze Laden nach St. Georg, wo er sich auch heute noch befindet.

In den 1990ern begann Joachim Bartholomae – damals noch als Buchhändler bei Männerschwarm tätig – mit dem Verlegen von Büchern. Eine Idee aus der Not geboren: schwule Bücher zu produzieren, die die Heteroverlage aus welchen Gründen auch immer einfach nicht machen wollten. Was klein anfing, mündete mit den Jahren in der Formierung des Verlags Männerschwarm, der heute einen der wichtigsten einschlägigen Verlage auf dem schwullesbischen Buchmarkt darstellt. Er gehört heute sicherlich zu den wichtigsten und verlässlichsten Titellieferanten für die Büchertische bei Löwenherz.
Genau genommen hat der Verlag Männerschwarm – wie Joachim Bartholomae selbst zugibt – seine Existenz einem Comic zu verdanken – nämlich Ralf Königs »Bullenklöten«. Denn mit dem Gewinn aus den 50.000 Verkäufen dieses Buches hatte der Verlag das Startkapital beisammen, um weitere Buchprojekte zu realisieren.
Mit der Zeit wurde Joachim klar, dass sich Buchhandlung und Buchladen auf Dauer nicht unter einen Hut bringen ließen. Da war die unternehmerische Ausgliederung des Verlages aus der Buchhandlung dann nur noch ein folgerichtiger, weiterer Schritt.

Neben Joachim Bartholomae gehört HaJü Köster zum – sorry! – Urgestein des Hamburger schwullesbischen Buchladens. Er manövriert auch heute noch »Männerschwarm« zusammen mit Volker Wuttke durch die sicherlich schwierigeren Zeiten.
2011 konnte der Laden sein 30jähriges Bestehen feiern – eine echte Leistung, wenn man bedenkt, wie viele Läden es nicht bis heute geschafft haben. »Sodom«, »Lavendelschwert«, »Männertreu«, »Zeus«, »Ganymed«, »Max&Milian«, »Oscar Wilde« …

Auch wenn »Männerschwarm« für mich nicht gerade auf dem Weg von Blankenese zur Uni lag, machte ich doch häufig einen Abstecher. Es ging mir dabei um die Literatur; ich suchte, fand und kaufte dort meine Bücher. Ab und zu gönnte ich mir auch einen Abstecher in den Revolt-Shop in der Clemens-Schultz-Straße – einer Parallelstraße der Reeperbahn in St. Pauli. Wie es sich für die Gegend gehörte, kaufte ich dort die pornografischen Sachen wie Pornohefte, Porno-VHS, Kalender, erotische Billets – Dinge, die es im Männerschwarm damals nicht gab – sozusagen die Dinge für den Schwanz. Männerschwarm hatte kein prinzipielles Problem mit pornografischen Waren, musste jedoch wie viele Läden deswegen Schwierigkeiten mit der Zensur befürchten. Sie hielten sich zurück und überließen diese Grauzone des Gay Commerce den schwulen Sexshops, die es mittendrin in St. Pauli – umgeben von Prostitution und allen möglichen auf Sex ausgerichteten Etablissements – eher darauf ankommen lassen konnten.

Diese Aufteilung meiner Einkäufe finde ich heute eigentlich bemerkenswert, weil ein moderner schwullesbischer Laden beide Aspekte integriert, die ganze Bandbreite an Interessen und Bedürfnissen zu bieten versucht. Darum gibt es bei Löwenherz den schwulen Qualitätsroman neben dem schwulen Porno, das lesbische Sachbuch neben der lesbischen Liebesschnulze, den avantgardistischen Schwulenfilm neben den Comics von Ralf König, Pride Artikel neben dem feministischen Klassiker – die Nennung kontrastierender Paare ließe sich noch lange fortsetzen. Wir führen Trash und Qualität, die schöne Literatur und den Porno mit gleicher Selbstverständlichkeit. Insofern hat sich das Projekt der schwulen Buchläden auch weiterentwickelt.
1990 kam ich in die Abschlussphase meines Studiums in Hamburg. 1991 hatte ich es dann geschafft und verlagerte meinen Lebensschwerpunkt weg von Hamburg – erst nach Bayern, später wieder in Richtung Österreich.

Der Kontakt zu Männerschwarm ist seitdem nie abgerissen – zum Teil auch deswegen, weil ich in den folgenden Jahren die Metamorphose vom Kunden schwuler Buchläden zu einem der ersten Homobuchhändler Wiens vollzog. Wir hatten überwiegend mit dem Verlag zu tun, aber immer wieder auch im Rahmen kleinerer Kooperationen mit der Buchhandlung. Ich danke Joachim und HaJü, denn der Kontakt zu ihnen und ihrem Laden am Neuen Pferdemarkt hat mir einiges modellhaft mit auf den Weg gegeben, dass mir als Buchhändler später in meiner Zeit bei Löwenherz sehr geholfen hat.

Teil 1 von Jürgens Blog-Beitrag »Warum gibt es das nicht auch in Wien?«