Radclyffe Hall: Quell der Einsamkeit
An Marianne von (Name unleserlich)
(…honny soit qui mal y pense!)
Berlin, Weihnachten 1933
Ja, ich erinnere mich noch genau. Irgendwie und irgendwo war ich einige Jahre zuvor auf den Namen Radclyffe Hall gestoßen und den Titel »Quell der Einsamkeit«. Und dass mit diesem Buch einer der größten Zensurskandale des 20. Jahrhunderts verbunden sei. Und dass es von lesbischer Liebe handle. Mehr wusste ich nicht, denn niemand aus meinem Umfeld besaß ein Exemplar; es stand in keiner Bibliothek, und es existierte nicht im Buchhandel. Und so griff ich wie elektrisiert zu – erst recht nach der Lektüre der Widmung.
Hier halte ich auch heute noch ein Buch in meinen Händen, das Geschichte gemacht hat – und mehr noch: Dieses ganz konkrete Exemplar, dessen Original-Papiereinband leider nicht meine vielen Umzüge überstanden hat, erzählt selbst eine Geschichte und wirft viele Fragen auf: Wie war dieses Buch von Berlin nach Salzburg gelangt? Wer war die Beschenkte, und wer war die/der Schenkende? Wann wurde dieses Buch gekauft? Noch vor der Machtergreifung der NSDAP? War es überhaupt noch 1933 im Buchhandel erhältlich? Wer war Marianne? Eine Butch? Wie hat es die Kriegsjahre und die Jahrzehnte der Zweiten Republik überstanden? Stammte es aus einer Nachlassauflösung? Ohne allzu viel hineinzugeheimnissen, denke ich öfter, dass dieses Exemplar sicher in Lesbenhand gewesen war – und dass es zufällig wieder in Lesbenhände geraten ist. Vielleicht hätte sich Marianne darüber gefreut?
»Quell der Einsamkeit« begleitet mich seit mehr als drei Jahrzehnten, und dieser Roman ist einer der literarischen Texte, die ich bislang am häufigsten gelesen habe. Das hat sicher nichts mit der leider unzureichenden literarischen Qualität zu tun, sondern mit der Geschichte, der Story, dem Inhalt. Diese faziniert mich, ärgert mich, reizt mich zu Zustimmung wie auch Widerspruch, zieht mich hinein und stößt mich gleichzeitig ab. Und noch immer lese ich den Roman ohne Unterbrechung. Und er wirkt noch immer neu und erfrischend auf mich. Eine höchst ambivalente Leseerfahrung, die ich sonst nur von wenigen Büchern kenne. Und genauso ambivalent meine Reaktionen auf die Hauptfiguren: Eigentlich müsste ich mich als Femme ja mit Mary Lllewellyn identifizieren, aber diesem Prototyp als femininste Frau kann ich absolut nichts abgewinnen. Da liegt mir Stephen Gordon, der klassische KV, viel näher. Mit ihr leide ich mit, und mit ihr freue ich mich. Und ich ärgere mich über die Autorin, die ganz ganz traditionelle Geschlechterrollenklischees in ihre Geschichte verpackt hat. Und erst recht darüber, dass ›Invertierte‹ nur unglücklich sein können und an ihrer ›Natur‹ leiden.Doch um einen Roman wie diesen zu verstehen, dürfen wir nicht ausschließlich unsere moderne Sichtweise anwenden. So veraltet dieser Roman in vielen Bereichen heute anmutet, überzeugt er doch wieder stark durch seine damalige Kühnheit – eine Ausnahme in der damaligen Belletristik. Unmittelbar nach seiner Veröffentlichung wurde er 1928 in Großbritannien wegen ›Obszönität‹ verboten – allerdings hatte das Gerichtsurteil keinen Einfluss auf die Pulbikation in anderen Staaten oder Übersetzungen. Jedenfalls verkaufte sich das Buch sehr gut, und es galt als d i e repräsentative literarische Darstellung der lesbischen Frau schlechthin. Und wir können sicher sein, dass sich viele Leserinnen mit den Frauen in diesem Buch identifizierten bzw. dieses als mögliches Erklärungsmodell für ihre Gefühle gegenüber anderen Frauen benutzten. So zeigt gerade dieser Roman auch sehr genau die Veränderungen auf, die wir Lesben seit den gut 85 Jahren nach Erscheinen erlebt haben.
Um noch einmal zur Widmung in meinem Buch zurückzukommen: Verachtet sei, wer Arges dabei denkt zeugt von sehr viel Selbstbewusstsein. Und vielleicht läse ich diesen Roman mit anderen Augen, müsste ich nicht jedes Mal diese Widmung aufschlagen.
Radclyffe Hall: Quell der Einsamkeit. Übersetzt von Eva Schumann. Mit einem Vorwort von Havelock Ellis. Leipzig, Paul List Verlag 1929
Das Buch »Quell der Einsamkeit« im Online-Shop kaufen.
Gudrun Hauer
Politologin und freie Journalistin. Lehrbeauftragte für Politikwissenschaft an der Universität Wien (feministische Politikwissenschaft, Lesben- und Schwulenforschung), Forschungsschwerpunkt Homosexualitäten und Nationalsozialismus. Chefredakteurin LAMBDA-Nachrichten, Ehrenmitglied der HOSI Wien.