Erinnern und Erzählen – die Selbstfindung des Bedrängten im kunstvollen Märchen.

Zu Gunther Geltingers Roman »Moor«

Von Veit Schmidt

Gunther Geltinger: Moor

Gunther Geltinger: Moor

Eine romanhafte Märchentheorie: Wie einen Schlüssel stellt Gunther Geltinger seinem Roman »Moor« ein ebenso anmutig-schönes wie gruseliges Märchen voran, das an die zahlreichen kurzen, oft brutalen Märchen in der Grimm’schen Sammlung erinnert, die sich einer niedlichen Hollywood-Verwertung bislang erfolgreich versperrt haben. Der nachfolgende Roman entfaltet und interpretiert auf 440 Seiten nicht nur die Geschichte des vorgeschalteten Märchens, sondern vor allem die Entstehung dieser Geschichte.

Das erste große Kapitel »Herbst« schildert die kindliche Idylle des 13jährigen Dion, der mit seiner Mutter in einem einsamen Haus am Rand eines norddeutschen Moors aufwächst. Sein Vater lebt nicht mehr, er kam bei einem Unfall im Moor ums Leben. Die Mutter versucht sich als Künstlerin, doch keines ihrer Bilder kann sie verkaufen. Dion ist ein Außenseiter, er stottert, wofür er natürlich von seinen Mitschülern gehänselt wird. Für die üblichen Aktivitäten seiner Altersgenossen interessiert er sich wenig, sein Hobby oder vielmehr seine Leidenschaft sind die Libellen des Moors, die dort in zahlreichen Arten leben. Mit Hingabe sammelt Dion die Hüllen der Libellenlarven, bestimmt die einzelnen Arten und vertieft sich in ihre Lebensweise. Seine Mutter unterstützt ihn in seinen Interessen, doch nimmt Dion ihre moderne und aufgeschlossene Art als Vereinnahmung wahr. Mitunter ist Dions Mutter auch sexuell übergriffig, was für den pubertierenden Jungen, der auf der Schwelle seines Coming-outs steht, vor allem Anlass ist, sich noch mehr zurückzuziehen.

Dions Faszination gilt seinem etwas älteren, derben Cousin Hannes, der als selbstbewusster Bauernsohn erzogen wird. Ihm stellt Dion nach, wenn Hannes mit einem Mädchen im Moor allein ist, Hannes‘ bodenständig-brutale Art zieht Dion an – seinem Cousin ausgeliefert zu sein, scheint sein sehnlichster Wunsch. Als seine labile Mutter in ein psychiatrisches Krankenhaus eingeliefert wird, kommt Dion zur Familie seines Cousins und diesem so nahe, wie er es nie zu hoffen wagte. Gleichwohl passiert letztlich in dieser vermeintlich günstigen Situation nichts, erst viel später, als in einem heißen Sommer das Moor überall brennt, kommen die beiden sich näher, als Hannes Dion auf seinem Moped mit nach Hamburg nimmt.

Doch diese Wendungen finden in den folgenden Kapiteln – »Winter«, »Frühling«, »Sommer« – statt, in denen die kindliche Idylle aufbricht, Pubertätsspielchen neue Grenzen suchen, dabei alte überschreiten und die Jugendlichen verletzen. In diesen Kapiteln beginnen auf einmal reflektierende und persektiv-wechselnde Passagen, die nach und nach immer häufiger werden. Mal erzählt Dion als Erwachsener im Rückblick, mal seine Mutter, diese zumeist im Zorn oder in der Enttäuschung über ihren Sohn. Dabei wird immer deutlicher, dass Dions Geschichte, die zunächst zwar traumhaft aber doch in sich schlüssig und konsistent erschien, gerade in diesen Passagen eine verdichtete, verzerrt wahrgenommene, wenn nicht sogar erfundene und erlogene Geschichte ist. Und immer klarer wird, was das Motiv dieser Geschichts-Konstruktion ist, nämlich die Selbstdarstellung des Erwachsenen, der versucht, vor allem seinen gegenwärtigen beklemmenden Gemütszustand vor und für sich selbst zu begründen und zu rechtfertigen. Aus den immer wieder umgewälzten Erinnerungen, Fantasien und unterschobenen Schuldzuweisungen entsteht so eine Geschichte, die je ferner und traumhafter umso klarer und wirkmächtiger erscheint.

Im Grunde ist also »Moor« ein rückläufiger Roman, der nur vermeintlich Dions Geschichte chronologisch richtig erzählt. »Moor« schildert die Erwachsenen-Perspektive, die sich ihre eigene Entstehung zurecht legt und dabei aus Erinnerungsfetzen und Gesprächen mit der Mutter (die eine mitunter völlig andere Sicht der Dinge hat) eine Geschichte zusammensetzt, die schleichend zwar immer mehr Realität verliert, dabei aber zugleich immer mehr Bedeutsamkeit erheischt. So schließt sich die Romanerzählung am Ende mit dem Anfang zusammen und verdeutlicht, wie Märchen weder etwas Kindliches sind noch ursprünglich für Kinder entstehen, sondern im Gegenteil Selbstdeutungen eines sich immer mehr verengenden Erwachsenenlebens sind.

Das Ganze hat Gunther Geltinger in einer überaus kunstvollen Form ausgearbeitet, sowohl sprachlich wie erzählerisch, so kunstvoll, dass man sich unwillkürlich fragt, ob nicht sogar die Kunst selbst gemeint ist, die aus dem Wahn selbstgerechter Projektionen entsteht. Die entlarvende Authentizität der als solche erkennbaren eigenen Erinnerung vermeidet Gunther Geltinger dadurch, dass er nicht Dion, sondern das Moor zum Erzähler macht. So wird der Eindruck einer objektiven Beobachtung mit der Atmosphäre des geheimnisvoll-märchenhaften verbunden, die erzählerische Grundlage für Gunther Geltingers Romansprache, die oft rhytmisch, mit zahlreichen Wortbildungen, mit Stabreimen und ähnlich gravitätischen Stilmitteln Wichtigkeit, Ausgefeiltheit und Durchdachtheit beschwört. Viel ernster kann sich ein Dichter wohl nicht nehmen und folgerichtig endet auch Dions Geschichte in einer detailreichen Fantasie von Freitod und Selbstauflösung.

Gunther Geltinger: »Moor« im Online-Shop der Buchhandlung Löwenherz kaufen

Buchtrailer von Jan Krüger zu »Moor«

Gunther Geltinger im Interview

3sat-Beitrag über das Buch

Gunter Geltinger im Beitrag von 3sat Kulturzeit

Gunter Geltinger im Beitrag von 3sat Kulturzeit