Dino Heicker: Mein Lieblingsbuch

Michael Sollorz: Abel und Joe

Michael Sollorz: Abel und Joe

Michael Sollorz: Abel und Joe

Ein Tag und eine Nacht in Berlin Ende des vergangenen Jahrhunderts: Abel sucht seinen Freund und findet doch nur sich selbst. So könnte man kurz die Handlung von Michael Sollorz‘ 1994 erschienenem Buch »Abel und Joe« umreißen. Es war der erste veröffentlichte Roman des 1962 in Ostberlin auf die Welt gekommenen Schriftstellers; erschienen ist er seinerzeit im verdienten, nun leider auch schon nicht mehr existierenden Berliner Verlag rosa Winkel.

Aufgeteilt in die vier Abschnitte »Der Morgen«, »Der Tag«, »Die Nacht« und »Der neue Tag« schildert das Buch, wie der ostdeutsche Filmkritiker Abel am 28. August seinen Freund Joe zu finden versucht. Der aus der katholisch-kleinkarierten Provinz Westdeutschlands stammende Bühnenbildner ist nämlich aus der gemeinsamen Wohnung spurlos verschwunden. Hat er die notorische Untreue seines Partners nicht mehr ertragen? War die Berliner Luft zu rau für ihn? Abel ist ratlos. Was bleibt, sind Erinnerungen an das Kennenlernen in einer Sauna, an den gelebten Alltag als Paar, aber auch an die gemeinsam besuchten Männer. Einer derselben, der taubstumme Engel mit dem Riesenschwanz, hatte Abel einst gewarnt: »Gib acht, Abel! Es sind nicht alle wie du.«

Ebenso einfühlsam wie literarisch präzise konserviert der Roman das schwule Lebensgefühl der Zeit kurz nach der Wende. Leise melancholisch und hintergründig komisch wird Abels Odyssee durch das nächtliche Berlin zur Metapher für die ewige Sehnsucht nach der Nähe, die Dauer verspricht. Doch wie so oft ist wohl gerade auch hier der Weg das Ziel. Unterwegs trifft Abel in einem Park auf diverse andere Suchende. Dass dabei so manche Körperflüssigkeiten ungehindert fließen, gehört wohl zu den unumstößlichen Gegebenheiten eines schwulen Daseins. So dürfen sich beispielsweise zwei Möppel und Flasche getaufte Fremde ungehemmt miteinander vergnügen: »Flasche drang in Möppel ein. Abel schob den Kopf des Jungen weg, fiel auf die Knie und leckte Flasches rasierten Sack. Seine Zunge tastete nach dem Ring des Gummis. Sie fand keinen; der stoßende dicke Schwanz war nackt. . . . Durch die Beine des Jungen lief ein Zittern. Seine Hände griffen nach hinten und zogen den Mann in der Lederjacke an sich. Flasches Stiefel zerwühlten den Boden, seine Eier schlugen in Abels Gesicht. Abel nahm sie in den Mund und spürte, wie es kam, seine Zunge spürte es durch die Haut, seine Lippen, den erstarrten Moment, bevor sich Flasche in den Jungen entlud.«

Sex und dessen Darstellung spielt in dem Buch eine wichtige Rolle. So sucht Abel seinen Freund durchaus auch an jenen Orten, wo schwule Männer ihre Geilheit hintragen. In der »Sauna unter dem Dach« findet sich zwar kein Joe, aber immerhin ein junger Mann, der Abel fickt. Und sollte es stimmen, dass alle Wesen nach dem Beischlaf traurig sind, dann gehört Abel zu der raren Spezies, die bereits davor in Melancholie versinkt.

Nebenbei hat Sollorz schon damals einen wehmütigen Blick auf im Verschwinden begriffene Charakteristika der deutschen Hauptstadt geworfen, so beispielsweise auf den brüchigen Charme der unrenovierten Häuser Ostberlins: »Wenn ich einmal reich bin«, verspricht Abel Joe, »kauf ich solch ein moosiges Mietshaus. Dann darf keine Macht der Welt sein Gesicht glätten und anmalen! Es wird schließlich das letzte Haus in der Stadt sein, das noch daran erinnert, wie alles mal ausgesehen hat. Die Reisebusse halten davor und lauter kleine Japaner mit Videokameras zielen auf unser Fenster. . .

Das, was den Roman in literarischer Hinsicht über andere Bücher jener Jahre hinaushebt, sind unter anderem auch seine surrealistischen Höhenflüge. Urplötzlich aus dem schnöden Alltag ausbrechend, gestaltet der Autor immer wieder die innere Fantasiewelt seines Protagonisten in atemberaubenden Bildern, die mit leichter Hand auf die (deutsche) Geschichte anspielen, den Traum mit Realität vermischen und oftmals Spaß in bitteren Ernst verkehren. Auch nach fast 20 Jahren und nach wiederholter Lektüre hat »Abel und Joe« für mich nichts von seiner Kraft eingebüßt.

Das Buch »Abel und Joe« ist leider vergriffen, wir versuchen gern, ein antiquarisches Exemplar zu bestellen (Anfrage über unsere Kontaktseite).

Dino Heicker

Dino Heicker lebt als Literaturwissenschafter und Lektor in Berlin.

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Einer der ambitioniertesten deutschsprachigen schwulen Autoren wird 50: Michael Sollorz. Sein Tagebuch dieses Jubiläumsjahrs berichtet von einer neuen großen Liebe und zwei Ex-Männern, den Nächten zwischen Sex-Partys und Literaturproduktion, von Reisen durch Europa und Asien, Besuche beim Therapeuten, von seiner einsamen alten Mutter, seiner Wut auf das Scheitern der DDR. – Michael Sollorz »Fünfzig« – Mehr Infos zu dieser Neuerscheinung und zu weiteren Büchern des Autors.

 

 

 

 

 

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