Was für eine schwierige Frage! Mein schwules Lieblingsbuch. Es gibt so viele. Und das ultimative ohnehin nicht. Welches Buch für welchen Lebensabschnitt wählen?
In den 1980er Jahren war es sicher »Die Konsequenz« von Alexander Ziegler, für mich das erste Buch, in dem für mich Homosexuelle als Menschen (wenn auch als Opfer) gezeigt wurden – aus heutiger Sicht eine über weite Strecken schwer erträgliche Sozialromanze. Oder in den 1990er Jahren David Leavitts »Die verlorene Sprache der Kräne«, der in einer schwulen Großstadtwelt seinen Helden an Mutter und Freund_innen leiden lässt – auch etwas in die Jahre gekommen. Oder sollte ich doch eher »Abel und Joe« von Michael Sollorz nennen, weil er das »Im-Löffelchen-liegen« so einzigartig schön beschrieb.
Oder sollte ich mich gleich in den literarischen Olymp aufschwingen und Marcel Prousts »Unterwegs zu Swann« nennen (nein, nicht die ganze ‚Recherche‘, die hätte ich gerne gelesen), ein Buch, das mich nachhaltig beeindruckt hat und noch immer beeindruckt. Doch ist Prousts mäanderndes Gesellschaftsporträt nur unterschwellig „schwul“. Und so entscheide ich mich bei der Wahl meines aktuellen „schwulen“ Lieblingsbuchs auch für ein eigentlich „unschwules“ Buch.
Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Ein Bestseller, mit Lob überhäuft, was gibt es noch zu sagen über de Waals Geschichte der Familie Ephrussi? Da wären einmal die Kapitel über den französischen Zweig der Familie, verkörpert in Charles Ephrussi, in denen de Waal Swanns Welt aus »Der Suche nach der verlorenen Zeit« auferstehen lässt. Der stadtbekannte Dandy Charles, gerüchteweise bisexuell, von sagenhaftem Reichtum, mit den großen Künstlern seiner Zeit befreundet, wurde nicht nur zu einem der Vorbilder für Prousts Hauptfigur, er machte den Romancier auch mit vielen der Kunstwerke bekannt, die zur „visuellen Textur“ seines Romanzyklus wurden.De Waals Familiengeschichte ist auch eines der schönsten historischen Wienbücher der letzten Jahre. Detailreich beschreibt er die Luxuswelt einer der reichsten Familien Wiens in ihrem prächtigen Palais gegenüber der Universität, eindringlich erzählt er von der Vertreibung ins Exil, weil nach den Nürnberger Gesetzen definierte „Juden“ nicht mehr erwünscht waren. Die Welt der Ephrussis war zerstört, kein überlebendes Mitglied der Familie konnte nach dem Krieg wieder in Wien Fuß fassen.
Der letzte Grund für meine Wahl zum Lieblingsbuch ist die Geschichte von de Waals Onkel Iggie, von dem er die japanischen Figuren erbte, die einst Charles in Paris erworben hatte und die über den Umweg Wien wieder in Japan gelandet waren. Vor allem wie er sie erzählt, ist beeindruckend. Iggie lebte seit den 1950er Jahren zusammen mit seinem Freud Jiro am Rand von Tokio. De Waal schafft es, ohne die Worte homosexuell oder schwul zu verwenden, von deren Liebe zu erzählen, nie gibt er ihr eine Note des Besonderen. Noch nie habe ich ein Buch gelesen, in dem eine schwule Liebesgeschichte so selbstverständlich erzählt wurde wie in Edmund de Waals »Der Hase mit den Bernsteinaugen«. Mein aktuelles Lieblingsbuch.
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Andreas Brunner
Mitbegründer und Leiter von »QWIEN – Zentrum für schwul/lesbische Kultur und Geschichte«. Buchhändler der ersten Stunde bei Löwenherz. Mitbegründer der Zeitschrift »tamtam«. Mitbegründer der Regenbogenparade. Co-Kurator der Ausstellung »Geheimsache Leben. Schwule und Lesben im Wien des 20. Jahrhunderts«.