D 2011, 421 S., Broschur, € 14.90Kostenloser Versand ab 25 Euro Bestellwert.QuerverlagInhalt
Christian ist 16 und wächst in den beklemmenden 50er Jahren auf. Das Leben steht immer noch unter dem Eindruck des verlorenen Krieges, die Städte sind zerstört und werden gerade erst wieder aufgebaut, die Generation der Eltern hat ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus noch nicht überwunden. Christian ist ein unsicherer Junge. Seinem autoritären Vater kann er kaum Widerstand entgegen setzen, seine ältere Schwester führt ihn erfolgreich am Gängelband. Als Heimatvertriebene hat die ganze Familie ohnehin einen schweren Stand in der neuen Stadt, auch in der Schule bekommt es Christian zu spüren, gesellschaftlich nur zweite Garnitur zu sein. Dementsprechend bemüht er sich zu gefallen, versucht vor allem mit sportlichen Leistungen bei seinen Mitschülern wie bei der Schulleitung zu punkten. Auch sexuell ist Christian unsicher. In der Klasse und mit seinem besten Freund, Stefan, beziehen sich erotische Gespräche natürlich nur auf Mädchen. Doch beim Onanieren denkt Christian stets an seinen Klassenkameraden, und als die beiden zum ersten Mal gemeinsam Wichsen und er nur noch an Stefans Schwanz denken kann, dämmert ihm, dass sein Interesse offenbar über kameradschaftliche Freundschaft hinaus geht. Vor allem aber will Christian Maler werden. Vor kurzem gab es in seiner neuen Heimatstadt einen veritablen Kunst-Skandal, ein örtlicher Maler hatte im großen Stil historische Bilder gefälscht. Weil dieser Maler sein Atelier in einem abgelegenen Haus im nahen Moor hat, treibt es Christian häufig dorthin, um dem Maler vermeintlich zufällig begegnen zu können. Doch das Atelier ist untervermietet und so trifft Christian den jungen schwulen Maler Ricky von Dülmen, der sich sein Geld vor allem mit manierierten schwul-pornographischen Männerbildern verdient. Als Christian eines dieser Bilder von Ricky gezeigt bekommt, ist er ebenso fasziniert wie verwirrt - sowohl von der deftigen Darstellung als auch von Ricky. Immer wieder sucht Christian Rickys Nähe. Gleichzeitig versucht er, ein normales, erwartbares Leben zu führen. Die Freundschaft zu Helga scheint perfekt dazu geeignet, auch sich selbst vorzumachen, sein Interesse an Ricky sei nur in der Malerei begründet. So schwankt Christian zwischen zwei völlig gegensätzlichen Welten. Helga spürt, dass Rickys Verhältnis zu Christian in Konkurrenz zu ihrem steht, und setzt alles daran, die beiden auseinander zu bringen. Ohne zu wissen, dass die beiden tatsächlich auch Sex hatten, verrät sie Christian, als sie ihn auf einem Foto mit Ricky erkennt. Für Christian bricht die Hölle los. Diese Geschichte allein schon wäre erzählenswert, doch »Anderer Welten Kind« ist vor allem durch den Erzählstil und die ebenso gekonnte wie zurückhaltende Verflechtung der Haupthandlung mit zahlreichen Nebensträngen empfehlenswert. Der Erzählstil ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass die Schilderung der Orte und Zeitverhältnisse, der Wohnzimmer, der von Zerstörung und Wiederaufbau geprägten Straßen, der hierarchischen Familienordnung, der Obrigkeitshörigkeit, der Schulen, die damals noch Anstalten hießen, breiter Raum zukommt. Dagegen beschränkt sich die direkte psychologische Darstellung auf Christian, alle anderen Personen erhalten ihre Prägnanz und charakterliche Schärfe dadurch, dass sie sich vom detailreich gemalten Hintergrund abheben. So wird Christian zu einer Identifikationsfigur, zugleich erlebt der Leser alle anderen Akteure sowohl als Teil von Christians Umwelt als auch als eigenständige, plastische Charaktere. So zum Beispiel Christians Tante Hermine, der Christian zwar nie begegnet ist, doch deren Tagebuch er gefunden hat, dessen Lektüre Tante Hermine zu seiner engsten Vertrauten werden lässt. Und obwohl auch der Leser Tante Hermine nur aus ihren Tagebucheinträgen kennen lernt, ist klar, dass Christian ein viel zu enges, seiner momentanen Seelennot entsprungenes Bild von ihr hat. Diese Doppelsicht entwickelt Autor Wolfgang Ehmer auch für Wullenwever, den dritten schwulen Charakter des Romans. Wullenwever ist schon etwas älter, hat als 175er das KZ Flossenbürg überlebt und handelt offiziell mit Altwaren, als lukratives Nebengeschäft verkauft er die damals noch illegalen pornographischen Bilder Rickys. Drei ganz kurze Auftritte hat Wullenwever nur im Roman, für Christian bleibt er ein merkwürdiger, vielleicht etwas unheimlicher alter Mann. Doch vor dem Leser steht ein vielschichtiger Charakter, abgeklärt und einfühlsam, vordergründig übervorsichtig, ja fast feige, doch zugleich ist klar, dass Wullenwever auch ein mutiger Mann gewesen sein muss. Neben Christians packender Geschichte sind es solche Nebenfiguren vor einer anschaulichen Hintergrund-Schilderung, die »Anderer Welten Kind« für mich zu einem der ergreifendsten schwulen Romane seit langem machen.
(Veit empfiehlt, Winter Katalog 2011)Podcast (10 Minuten) zu diesem Titel anhören