D 2012 (Neuaufl.), 335 S., Broschur, € 14.90Kostenloser Versand ab 25 Euro Bestellwert.QuerverlagInhalt
Meine Gedanken nach den ersten Seiten über
den Hauptcharakter Tobias waren nicht die
freundlichsten. Wie hat Tobias seine Probleme
bloß so lang mit Alkohol betäuben können?
Ich würde derart viele Probleme unerledigt
nicht aushalten können. Wie kann er nach
einem durchzechten Wochenende noch halb
im Rausch, schlaftrunken und verkatert in
die Arbeit fahren. (Er arbeitet bei einer Krankenkasse
und ist für die Genehmigung von
Kostenersatz zuständig). Er hat kein Verantwortungsgefühl
und nimmt keine Rücksicht auf irgendjemanden. Das erste, was ihm einfällt,
als sein Freund die nicht allzu lange
Beziehung beendet, ist Alkohol, Flucht vor
dem Schmerz und vor
der eigenen Schuld. Er
trinkt dann eine Flasche
nach der anderen mit
»Niemand-hat-mich-lieb-
Musik« als Untermalung.
Als dann das flüssige
Vergessen ausgetrunken
ist, wird die Ersatz-Mutter
angerufen um für noch
mehr Alkohol zu sorgen
und um eine Schulter
zum Ausweinen mitzubringen. Tobias ist 39
und hat nie gelernt, mit seinen Problemen
umzugehen. Es wird schnell klar, dass der
Schmerz der ersten großen Liebe hier eine
wichtige Rolle spielt. Dennoch reicht normalerweise
eine betrunkene Nacht, da muss
nicht gleich das ganze Wochenende ertränkt
werden.
Die Neugier, was nach diesem Roman-Intro Jan
Stressenreuter von seiner Hauptfigur erzählen
wird, wovon diese solch einen Schaden davongetragen
hat, war dann doch ein großer Antrieb,
das Buch wieder aufzunehmen.
Ich wurde nicht enttäuscht: Auch wenn es
stellenweise anstrengend war, ließ mich die
Spannung das Buch immer wieder zur Hand
nehmen und ich habe es letztendlich in zwei
Zügen ausgelesen. Es lässt sich schon früh
erahnen, wovor Tobias davonläuft. Wie bei
einem Krimi setzt sich ein Puzzlestein nach
dem anderen zusammen, um in einem großen
Finale zu gipfeln. Ich werde jetzt noch ganz
kribbelig und aufgeregt, beim Lesen habe ich
richtig mitgelebt. Ich konnte und wollte auch
so richtig in die Geschichte versinken. Tobias
muss zurück in die provinzielle Heimat, um
seiner Mutter bei der Beerdigung des Vaters zu
helfen. Das macht er nur ungern, denn nachdem
er mit 17 in die Großstadt geflohen war,
hat er es danach nie länger als einen Tag
dort ausgehalten und seine kleine Schwester
Franziska kennt er hauptsächlich von stundenlangen
Telefonaten. Der Grund wohnt gleich
gegenüber von seinem Elternhaus: Sebastian,
erst Kumpel, dann Geliebter, jetzt manifester
Horror. Da Sebastian ein enger Freund der
Familie ist und Ersatzbruder für Franziska,
lässt sich ein Zusammentreffen nicht vermeiden.
Und schon kämpfen sich die ersten Erinnerungen
an die Oberfläche. Angefangen wie
die beiden sich in der Kindheit kennengelernt
haben, wie im pubertären Übermut die Dorfkirche
entweiht wird, so durchlebt Tobias Stück
für Stück die Vergangenheit. Jetzt, da es kein
Entkommen mehr gibt, drängt der Schmerz an
die Oberfläche. Jan Stressenreuter hat Courage
gezeigt und sich in seinem ersten Roman mit
einer Vielzahl, wie ich finde, schwerer Thema
befasst, ohne dass einen die Traurigkeit überwältigt.
Am Schluss des Buches dachte ich mir
schließlich: "Nur eine Seite noch! Das geht
sich doch nie aus, ich bin doch noch mitten in
der Geschichte." Es ging sich aus, plausibel,
vollendet genug, um das Buch mit einem guten
Gefühl zu schließen, und offen genug, um sich
ein persönlich Ende auszumalen können. Ich
habe gerätselt, mich geärgert, geschrien und
gelacht, es war ein schönes Erlebnis, das mir
Lust aufs nächste Buch gemacht hat.
(Michael empfiehlt, Winter 2012/13)