Jan Stressenreuter im Gespräch


»Wir kennen unsere eigene Geschichte nicht.«

Jan Stressenreuter im Gespräch mit Rainer Hörmann über den Roman »Mit deinen Augen«

Rainer Hörmann: Mit deinem neuen Roman machst du einen Zeitsprung in die fünfziger Jahre. Wie kam es zu der Idee, dich einem bestimmten Jahrzehnt deutscher Geschichte zu widmen?

Jan Stressenreuter: Je länger ich "schwule" Romane schreibe, desto mehr bin ich der Auffassung, dass die "schwule" Literatur im deutschsprachigen Raum zurzeit auf der Stelle tritt. Wir schreiben immer über dieselben Beziehungskisten, Coming-out-Probleme, die Suche nach dem Mr. Right. Nicht, dass diese Romane keine Daseinsberechtigung hätten - immerhin habe ich ja selbst welche geschrieben -, aber ich begann mich mit diesem eingeschränkten Themenspektrum ein wenig zu langweilen. Ich bin der Ansicht, dass "schwule" Literatur nur dann überleben kann, wenn sie sich über die Nabelschau spezifisch schwuler Befindlichkeiten hinaus entwickelt, wenn sie in der Lage ist, die schwule Sicht der Welt in Zusammenhang zu setzen mit den Dingen, die heutzutage ebenfalls gesellschaftlich und politisch relevant sind: Umweltschutz, Integration, Bildung, Arbeitslosigkeit, Altersarmut, um nur einige Beispiele zu nennen. Damit kann sie für den schwulen Leser interessant bleiben.
Allerdings kann man nur dann kompetent zu solchen Fragen Stellung nehmen, wenn man seine eigene Geschichte kennt - und das tun die meisten Schwulen nicht. Im Gespräch mit anderen Autoren und Literaturkennern erfuhr ich, dass es so gut wie keinen Roman über die Situation der Schwulen in den fünfziger Jahren gibt, was mich ziemlich erstaunte. Aber ich hatte mein Thema gefunden. Abgesehen davon habe ich Ähnliches schon einmal ausprobiert, wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhang: Mein Erstling »Love to love you, Baby« spielt vor dem Hintergrund der siebziger Jahre. Die Beschäftigung mit einer ganzen Zeitepoche scheint mir also irgendwie zu liegen.

Deine Recherche führte dich auch in die beiden wichtigsten Archive, die es in Deutschland zur schwulen Geschichte gibt: Ins schwule Museum Berlin und ins Centrum für schwule Geschichte in Köln. Was konntest du dort über die fünfziger Jahre herausfinden?

Beide Archive sind außerordentlich reichhaltig und beinhalten eine Flut von Information und Wissen, so dass man schon genau wissen muss, wonach man sucht, wenn man sich dorthin begibt. Aber jedes Archiv hat natürlich auch fachkundige Mitarbeiter, die sich wirklich überschlagen mit Hilfsangeboten. Ich erinnere mich, dass das Centrum für schwule Geschichte in Köln mitten im Umzug war, als ich ihnen von meinen Plänen, bei ihnen zu recherchieren, erzählte. Normalerweise hätte ich damit gerechnet, in einer solchen Situation auf später vertröstet zu werden, aber stattdessen wurde mir ein Raum zur Verfügung gestellt, in dem ich seelenruhig meine Dokumente und Unterlagen einsehen konnte, nachdem ein Mitarbeiter sie aus diversen noch verpackten Kartons herausgesucht hatte.
Zunächst habe ich vor allem die wenigen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Werke zu Rate gezogen, die es zu diesem Thema gibt, etwa Georg Stümkes »Homosexuelle in Deutschland. Eine politische Geschichte« oder, ebenfalls sehr hilfreich, der Band »Himmel und Hölle Das Leben der Kölner Homosexuellen 1945-69« (herausgegeben von Balser/Kramp/Müller/Gotzmann). Dazu habe ich dann meterweise schwule Zeitschriften der damaligen Zeit durchgesehen, wie etwa »Der Weg«, »Der Kreis« oder »Pan«. Schon an den Namen kann man erkennen, wie verschämt man damals mit dem Begriff Homosexualität umging.
Jenseits dieser Hintergrundinformationen waren aber die Zeitzeugenberichte, die im Centrum für schwule Geschichte vorliegen, für mich am wichtigsten. Die Schwulen, die die damalige Zeit erlebt haben, sind nun in hohem Alter. Wenn sie sterben, nehmen sie auch ihre Erinnerungen mit sich. Diese wären unwiederbringlich verloren. Um dem zuvorzukommen, haben sich Mitglieder des Arbeitskreises schwule Geschichte in Köln Mitte der neunziger Jahre darangemacht, Schwule zu interviewen, die die fünfziger Jahre noch aus eigenem Erleben kennen. Diese auf Tonband aufgezeichneten Interviews liegen mittlerweile als Abschriften vor. Sie waren für mich von unschätzbarem Wert, sowohl was die Beschreibungen der damaligen Kölner Szene angeht, als auch um ein Gefühl dafür zu bekommen, unter welchen Bedingungen man damals als Schwuler gelebt hat: welche Ängste man gehabt hat oder wie man sich amüsiert hat.

Im Roman versucht die Hauptperson Felix übers Internet Informationen über homosexuelles Leben in den fünfziger Jahren zu finden. Welche Rolle spielte für dich das Internet bei der Recherche?

Ohne Internet könnte ich bis zu einem gewissen Grad keine Romane schreiben. Es ist unglaublich hilfreich und zeitsparend, wenn ich mal eben googeln, als mit Hilfe einer Suchmaschine Informationen finden kann. Allerdings muss man aufpassen, welche Quellen man zu Rate zieht: Im Internet kursiert auch viel Halb- und Desinformation. Für größere Zusammenhänge und gründliche Recherche nutze ich noch immer die gute, alte Institution Buch.

Hattest du das Gefühl, dass wir genug Material und Wissen über unsere schwule Geschichte besitzen oder gibt es große Lücken?

Prinzipiell glaube ich, dass man nie genug wissen kann. Ein größeres Problem als die Lückenhaftigkeit von erforschter schwuler Geschichte scheint mir allerdings das Desinteresse der Schwulen zu sein, sich über ihre eigene Geschichte zu informieren. Die Zeiten der schwulenbewegten siebziger und achtziger Jahre sind vorbei, heute bestimmen Konsum und Schnelllebigkeit die schwule Wahrnehmung. Ich will nicht lamentieren, aber ich halte das für eine bedenkliche Entwicklung.

Inwieweit ist historisches Material in den Roman eingeflossen? Du beschreibst im Roman ja Fotos aus den fünfziger Jahren, schilderst einen Überfall auf eine Schwulenkneipe …

Diese Dinge sind erfunden, denn der Roman ist ja Fiktion und keine Dokumentation eines bestimmten Ereignisses. Allerdings hat es damals durchaus Überfälle auf Schwulenkneipen in schöner Regelmäßigkeit gegeben, das ist historisch verbürgt, genauso wie es Rosa Listen gab, Repressalien durch Staat und Polizei sowie die Ächtung durch die bürgerliche Gesellschaft. Der Hintergrund der Geschichte ist historisch, die Geschichte selbst aber ist Fiktion.

Gibt es Vorbilder für die Figur Antons oder Herberts, also den beiden Männern, deren Lebensgeschichte erzählt wird?

Nein. Beide Charaktere sind frei erfunden, allerdings stehen sie symptomatisch für die Situation der Schwulen in den fünfziger Jahren. Ich glaube, es gab kaum einen Schwulen in der damaligen Zeit, der sich nicht vor Repressalien gefürchtet hat oder sich nicht in irgendeiner Weise verbogen hat, damit seine Homosexualität nicht öffentlich wird.

Du verwendest in der Beschreibung der Szene der fünfziger Jahre Namen wie Hugo Zehnpfennig oder die Mamm …

Beide hat es tatsächlich gegeben. Hugo Zehnpfennig alias Groschen war in einer Kneipe namens Barberina beschäftigt. Die Mamm war Besitzerin des Steinernen Kännchens und, wie ich immer wieder gelesen habe, eine sehr resolute Person. Überhaupt hat es alle Kölner Kneipen und Orte, die im Roman eine Rolle spielen, wirklich gegeben.

Du lebst in Köln - wie ist es für dich durch die heutige Szene zu gehen? Erinnert etwas an diese Orte? Gibt es sie noch?

Die Klappen existieren natürlich alle längst nicht mehr, was ich sowohl architektonisch - manche stammten noch aus der Kaiserzeit - als auch für die schwule Szene als Verlust empfinde. Von den damaligen Kneipen gibt es noch einige wenige, auch wenn sie heute mehr ein Stricherpublikum bedienen. Prinzipiell trauere ich der damals existierenden Subkultur aber nicht hinterher - zumal ich sie selbst ja gar nicht kennengelernt habe. Ich glaube, jede Zeit hat ihr eigenes Ambiente, die heutige Clubszene spiegelt die Bedürfnisse der Schwulen der Jahrtausendwende eben besser wieder.
Was sich allerdings über all die Jahre in Köln erhalten hat, hat weniger etwas mit bestimmten Orten als mit einer bestimmten Atmosphäre zu tun. In Köln geht es allgemein etwas "kuscheliger" zu als in anderen Großstadtszenen, der Zusammenhalt der Leute ist enger, es "menschelt" ein wenig mehr als beispielsweise in Berlin, Paris oder London. Und das finde ich gut.

Kann man dein Buch also auch als Versuch sehen, Erinnerung zu bewahren, damit sie einem breiteren Publikum zugänglich bleibt?

Ich bin sicher nicht der Hüter eines Grals. Meine Absicht war es, mit diesem Roman ein kleines Mosaiksteinchen Wissen zurückzuholen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ich bin auch eigentlich keiner, der in seinen Büchern eine "message" propagiert - so etwas fände ich anmaßend. Wie gesagt, es ist meiner Meinung nach wichtig, die eigene Geschichte zu kennen. Das hilft bei der Identitätsfindung enorm.

An wen wendet sich dann dein Buch?

Ach ja, die leidige Frage nach der Zielgruppe eines schwulen Autors! Natürlich wird der Roman hauptsächlich von schwulen Männern gelesen werden. Allein schon deshalb, weil er in einem schwullesbischen Verlag veröffentlicht wurde, dessen Bücher hauptsächlich über schwule und alternative Buchläden vertrieben werden. Aber ich wüsste nicht, warum nicht auch ein Heterosexueller diesen Roman lesen sollte. Letztendlich kommt es bei einem Buch doch nur darauf an, ob die Geschichte spannend, gut und unterhaltsam erzählt wird. Schwule Männer lesen ja auch nicht ausschließlich "schwule" Literatur.
Detlev Meyer hat mal sinngemäß gesagt, dass er erst bereit ist, von "schwuler" Literatur zu reden, wenn in der FAZ die Besprechung eines heterosexuellen Romans angekündigt wird. Fand ich ziemlich klasse.

Siehst du neben allen Unterschieden, wie etwa die Kriminalisierung von Homosexualität, auch Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen den fünfziger Jahren und heute?

Seit den 50er Jahren ist zum Glück ein halbes Jahrhundert vergangen und die Lockerung der Gesellschaft durch die 68er-Generation sowie die Bewältigung der Aidskrise hat schwulen Männern doch erhebliche Freiräume und Solidarität gebracht.
Das erste Nachkriegsjahrzehnt war eine verlogene, sehr spießbürgerliche Zeit, in der gerne alles Problematische unter den Teppich gekehrt wurde. Das empfinde ich heute nicht so. Einige Parallelen aber finde ich sehr auffällig: Zum Beispiel haben heute wie damals Konsum und Spaßhaben eine hohe Priorität und heute wie damals scheint eine große Zahl von Schwulen und Lesben sehr erpicht darauf zu sein, mit dem Mainstream der Gesellschaft zu verschmelzen. In den fünfziger Jahren entsprang dieser Wunsch der Notwendigkeit, möglichst nicht aufzufallen, aber wozu brauchen Schwule und Lesben heutzutage eine Homo-Ehe? Gleichberechtigung lässt sich meiner Meinung nach nicht dadurch erreichen, heterosexuellen Institutionen hinterher zu hecheln.

Hat dein Schreiben, deine Beschäftigung mit diesem Thema deine Sicht auf unser heutiges schwules Leben verändert?

Zum einen ist mir noch einmal bewusst geworden, wie gerne ich heute lebe und nicht in einer Zeit, in der ich jederzeit aufgrund meiner Veranlagung ins Gefängnis gesteckt werden konnte - auch wenn ich gestehen muss, dass zwischendurch ein gewisser Neid aufgekommen ist, als ich begann, mich mit einer Zeit zu beschäftigen, in der es noch kein Aids gab.
Zum anderen ist mir klar geworden, dass das Bestreben nach Gleichberechtigung, der Kampf um Akzeptanz, noch lange nicht vorbei ist, auch wenn es hin und wieder so aussieht. Das, was auf diesem Weg erreicht worden ist, ist ein kostbares Gut, aber es braucht nur einen kleinen Umschwung im liberalen Zeitgeist, und Schwule und Lesben stehen wieder da wo sie vor fünfzig Jahren gestanden haben.

Wie schon dein Roman »Ihn halten, wenn er fällt« liefert auch dein neuer Roman kein weichgespültes Bild schwulen Lebens. Mit scheint, es geht wieder um eine nicht immer einfache Suche nach der eigenen Position.

Sehr grundlegend formuliert, geht es in meinen Romanen immer wieder um die Frage von Schuld und Moral. Alle meine Figuren tragen eine Last mit sich herum, haben etwas auf dem Kerbholz, das sie darin hindert, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Zuerst habe ich es nicht wahrhaben wollen, aber je länger ich schreibe, desto mehr komme ich zu der Ansicht, dass ich ein sehr moralischer Mensch bin - auch wenn ich meinen Ansprüchen nicht immer genüge. Vielleicht ist das Schreiben in dieser Hinsicht ein Mittel, meine eigenen Defizite abzubauen. Letztendlich ist doch jeder Autor sein eigener Therapeut.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Rainer Hörmann und dem Querverlag, Berlin.

Jan Stressenreuter liest aus »Mit seinen Augen«
Donnerstag, 3.Juli 2008, 20 Uhr
Lokal Stone Wall, Rainerstr. 22, 4020 Linz

Freitag, 4.Juli 2008, 20 Uhr
Schikaneder Kino, Margaretenstr. 22-24, 1040 Wien

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